Handfunktion: Operative Methoden

Die chirurgische Verbesserung der Arm- und Handfunktion bei Tetraplegie gilt als hoch spezialisierte Form der Chirurgie, die eine enge Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen erfordert und optimal nur in speziell ausgerichteten Zentren umsetzbar ist. Für Patienten können schon kleine Fortschritte einen großen Gewinn im Alltag bedeuten.

„Wenn tetraplegische Patienten gefragt werden, welche Funktion sie am liebsten zurückgewinnen würden, steht die Einsatzfähigkeit der Hände immer an erster Stelle, weit vor dem Wunsch wieder zu gehen oder nach der Sexualfunktion oder der Kontrolle von Darm und Blase“, berichtet Jan Fridén, Professor für Handchirurgie und Leiter des Referenzzentrums für Tetrahandchirurgie Südskandinavien in Göteborg, gegenüber Paracontact (2/2013). Er habe oft mit sehr jungen Patienten zu tun, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben und die mit der verbesserten Gebrauchsmöglichkeit der Hände neue Selbstständigkeit wiedererlangten. Betroffene empfinden es als großen Fortschritt, wenn sie wieder selbständig essen, trinken, sich selbst katheterisieren oder ein  Smartphone bedienen können, sie gewinnen an Unabhängigkeit, Mobilität und Lebensqualität.

Pro Jahr tritt allein in Deutschland bei rund 1000 Menschen eine Querschnittlähmung auf, meist bei jungen Männern infolge eines Unfalls. Bei etwa der Hälfte von ihnen ist das Halsmark betroffen und damit zumindest Teilfunktionen der Arme und Hände (Medizinische Hochschule Hannover MHH, 2013). Können diese nicht oder nur unzureichend durch konservative Methoden rehabilitiert werden, gibt es in den meisten Fällen Möglichkeiten zur chirurgischen Optimierung.

Im Vordergrund stehen hierbei:

  • Wiederherstellung der Ellenbogenstreckung
  • Wiederherstellung der Handgelenksstreckung (ermöglicht den Tenodese-Effekt)
  • Kontrolle einfacher Greifformen, insbesondere zwischen Daumen und Zeigefinger

Die Erfolge einer konservativen Ausbildung der Funktionshand ohne Eingriff sind nicht vergleichbar mit operativen Resultaten, davon ist der Tetrahandchirurg Andreas Gohritz überzeugt: „Die künstlich geschaffene Kontraktur der Finger, die zwar das Greifen erleichtern kann, ist einer modernen Funktions-Rekonstruktion weit unterlegen“. Auch am Unfallkrankenhaus Berlin sieht das Team der Abteilung für Hand-, Replantations- und Mikrochirurgie die operative Wiederherstellung der Handfunktion als Chance für Tetraplegiker. In Schweden, Frankreich und Ungarn seien die Methoden zum Teil schon Routine. „In der BRD ist dagegen kaum bekannt, dass Tetraplegiker von diesen Operationen profitieren können. Und falls man Jahre nach der Reha erstmals von den Operationsmöglichkeiten hört, haben sich viele Tetraplegiker schon irgendwie mit ihrer Behinderung arrangiert“ (Auschra, 2008).

Verbesserungen seien bei mindestens 75% aller Tetraplegiker möglich – vorausgesetzt, dass eine Läsion auf Höhe oder unterhalb des 5. Halsrückenmarkssegments (C5) vorliege (Huemmer/Gohritz, 2013). Die hierzu durchgeführten Eingriffe sind:

  • Verlagerung von noch ansteuerbaren Muskeln
  • Gelenkstabilisierungen
  • Verlagerung von Nerven
  • Kombinierte Eingriffe, z. B. Beuger- und Streckerfunktion der Hand

„Diese Operationen sind technisch sehr herausfordernd, aber höchst effektiv“, beschreibt Jan Fridén seine Arbeit innerhalb des handchirurgischen Teams am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil. Chirurgen, Rehabilitationsmediziner, Ergotherapeuten und Physiotherapeuten begleiten hier den Wiederherstellungsprozess, der gleich nach einer Operation mit der Aktivierung der neuen Funktionen beginnt und bis zu drei Monate dauern kann. Ohne das Zusammenspiel aller beteiligten Disziplinen kann eine OP nicht erfolgreich sein. Wie lange ein stationärer Aufenthalt nötig ist, hängt vom Umfang der Operation, dem Heilungsverlauf, den Möglichkeiten in der häuslichen Umgebung (z. B. Verfügbarkeit von Hilfspersonen) und anderen individuellen Faktoren ab (Huemmer/Gohritz, 2013).

Verlagerung von Muskeln

Bei der Verlagerung eines Muskels wird die Sehne eines willentlich kontrollierbaren, nicht betroffenen Muskels mit entbehrlicher Funktion mit der Sehne eines gelähmten Muskels verbunden und so die Funktion wiederhergestellt (MHH, 2013). Erst nach Rückkehr der verbliebenen motorischen Fähigkeiten und wenn keine weitere Besserung zu erwarten ist, werden Techniken wie diese in verschiedenen Varianten angewendet. Durch Physiotherapie kann der Spendermuskel zuvor gestärkt werden.

  • Ellenbogenstreckung

Wenn die Ellenbogenstreckung aktiv nicht möglich ist, bleibt der Aktionsradius stark eingeschränkt. Der Arm kann oft nur durch eine schleudernde Trickbewegung vom Körper wegbewegt werden. Die Wiederherstellung der Trizeps-Funktion erfolgt meist entweder durch teilweise Verlagerung eines Schultermuskels (M. deltoideus) oder durch Umlagerung eines Ellenbogenbeugers (M. biceps).

  • Handgelenksstreckung

Die Verlagerung des Ellenbogenhilfsbeugers auf die Handgelenksstrecker ermöglicht das Hochziehen des Handrückens, also die Streckung des Handgelenks. Dabei entsteht der natürliche Tenodese-Effekt: Passiv beugen sich Finger und Daumen zu einer Greifform; beim Beugen des Handgelenks öffnen sie sich wieder. Verstärkt werden kann dieser Kneif-Effekt, indem eine Sehne zur Daumenbeugung an der Speiche befestigt wird. Betroffene können leichte Gegenstände, eine Zahnbürste oder Gabel, wieder halten.

  • Greiffunktionen

Bei erhaltener Handgelenkstreckung wird durch die Wiederherstellung der Funktion des langen Daumenbeugers eine kräftige und steuerbare Greiffunktion zwischen Daumen und Zeigefinger angestrebt. Sie macht das Halten und Bewegen auch gegen Widerstand möglich und erleichtert z. B. das An- und Auskleiden sowie den Selbstkatheterismus.

Sind genügend Spendermuskeln verfügbar, kann zudem der motorische Ersatz der tiefen Fingerbeuger zum aktiven Faustschluss möglich sein. „Welcher Eingriff zur Rekonstruktion der Greiffunktion in Frage kommt, hängt eng mit der Anzahl zur Umlagerung geeigneter und zur Verfügung stehender Muskeln zusammen“ (MHH, 2013).

Ergebnisse

„Die angewandten Operationen sind sicher und haben sich in Langzeitstudien bewährt“, kommentiert die MHH die Verlagerung von Muskeln, nicht nur bei Tetraplegikern (MHH, 2013). Komplikationen seien selten. Sie entstünden meist durch:

  • Wahl eines zu schwachen Spendermuskels
  • Überdehnung des Spendermuskels
  • Fehler in der Nachbehandlung, z. B. Überlastung mit Reißen oder Überdehnen der Sehnennaht

Keine Methode kann eine normale Hand schaffen, aber im Einklang mit den Zielen des Betroffenen funktionelle Möglichkeiten erheblich verbessern, davon sind die Experten überzeugt. In Deutschland befassen sich u. a. Dr. Thomas Meiners an der Werner-Wicker-Klinik in Bad Wildungen oder Dr. Richarda Böttcher am Unfallkrankenhaus in Berlin mit dem Gebiet der Tetrahandchirurgie und führen regelmäßig Operationen durch.

Weiterführende Literatur:

  • Gohritz, A., Fridén, J., Turcsányi, I.: Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie), in: Towfigh, H., Hierner, R., Langer, M., Friedel, R. (Hrsg.): Handchirurgie, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg, 2011.
  • Gohritz, A.: Funktionsverbesserung der oberen Extremität von Tetraplegikern, in: Vogt, P. M.: Praxis der Plastischen Chirurgie, Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg, 2011.