Mark O’Brien über die Treffen mit einer Sexualbegleiterin
Eine Sexualbegleiterin zu konsultieren ist ein Weg, den die meisten Menschen nicht leichtfertig gehen werden. Zu groß ist die Hemmschwelle, etwas so Persönliches wie die Erfüllung von Sexualität, mit Hilfe bezahlter Assistentinnen umzusetzen. Der Journalist Mark O’Brien beschrieb, warum er es trotzdem tat.

Mark O’Brien war ein kalifornischer Schriftsteller und Dichter, der in seiner Kindheit an Polio erkrankte und anschließend vom Hals abwärts bewegungsunfähig war. Seine Atemfunktion war von seiner Muskelschwäche stark beeinflusst, nicht aber Sensibilität und Sexualfunktionen. Es war ihm unmöglich, Frauen dazu zu bringen, mehr als einen Freund in ihm zu sehen, was, wie ihm selbst deutlich bewusst war, nicht ausschließlich an seiner Behinderung lag. Viele seiner Bekannten mit ähnlichen Einschränkungen hatten Partnerschaften und/oder waren sexuell aktiv. Er schrieb:
“Da ich selbst behindert, aber immer noch Jungfrau war, beneidete ich diese Leute glühend. Ich brauchte Jahre, um herauszufinden, dass der Punkt, in dem ich mich von ihnen unterschied, Furcht war – Furcht vor anderen, davor Entscheidungen zu treffen, vor meiner eigenen Sexualität und eine überdurchschnittliche Angst vor meinen Eltern, bei denen ich zwar nicht mehr wohnte, die in meinem Kopf mit ihren Urteilen und Geboten aber stets präsent waren.“
Um seine Sexualität auszuleben, ging er schließlich eine Surrogatpartnerschaft mit der Sexualbegleiterin Cheryl Cohen-Green ein. Diese Erfahrung beschrieb er in dem Artikel „On Seeing a Sex Surrogate“ (dt.: Über meine Treffen mit einer Sexualbegleiterin), der 1990 im US-amerikanischen Magazin The Sun erschien und dem Spielfilm „The Sessions – Wenn Worte berühren“ aus dem Jahr 2012 als Vorlage dient.
Das eigentliche Problem: Angst und Scham
Anders als der Film hat der 6.500 Worte starke, nur in englischer Sprache verfügbare Artikel „On Seeing a Sex Surrogate“ einen melancholisch-düsteren Ton. Heitere Noten, die es in O’Briens Leben zweifellos gab und die in die Handlung von „The Sessions“ eingebaut wurden, fehlen und noch deutlicher wird klar, wie schwer sich O’Brien mit der Entscheidung tat, seine Jungfräulichkeit an eine Surrogatpartnerin zu verlieren. Die Abgrenzung zur Prostitution war für ihn zunächst kaum erkennbar und erschloss sich in jahrelanger Recherche. Hinzu kamen seine von Religion und Erziehung geprägten profunden Scham- und Angstgefühle hinsichtlich seiner Sexualität und ein massiv gestörtes Selbstwertgefühl.
„Als Mittdreißiger war mir meine Sexualität immer noch peinlich. Sie schien gänzlich ohne Zweck in meinem Leben, außer als Quelle von Scham und Schande, wenn ich während meiner Bäder erregt war. Es war mir unmöglich mit meinen Assistenzkräften über die Orgasmen zu reden, die ich dann hatte, oder wie sehr ich mich dafür schämte. Ich war der Meinung, dass auch sie mich dafür hassten, wie sehr mich ihre Berührungen erregten.“
Der Wunsch nach sexueller Nähe einerseits und sein negatives Selbstbild andererseits führten zu einer inneren Zerrissenheit, über die O’Brien schrieb: „Ich wollte geliebt werden. Ich wollte in den Arm genommen, gestreichelt, gewertschätzt werden. Aber mein Selbsthass und meine Angst waren zu groß. Ich zweifelte daran, dass ich es wert war geliebt zu werden. Meine sexuelle Frustration schien nur eine weitere von vielen Plagen zu sein, die mir von einem grausamen Gott auferlegt wurden.“
Ob eine Surrogatpartnerschaft nun das Richtige für ihn wäre, besprach O’Brien mit verschiedenen Menschen – seiner Therapeutin, Assistenten, Freunden, einem Priester – und niemand riet ihm davon ab. Allerdings: ein Teil des Erwachsenseins, den O’Brien bisher vermieden hatte, war es, wie er sagte, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Es war ihm bewusst, dass er sein Selbstbild – das eines linkischen, unentschlossenen Trottels – nicht würde ändern können, indem er mit jemandem Sex hatte. Er sah die Notwendigkeit, die Verantwortung für sein Tun und Lassen zu übernehmen und sich zuzutrauen, eigene Entscheidungen zu treffen. Was er dann auch tat…
Cheryl Cohen-Green, Sexualbegleiterin
Nach jahrelangem Abwägen wendete sich O’Brien schließlich an Cheryl Cohen-Green und stand zunächst vor dem sehr mondänen Problem der Lokalität. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er auf einer gepolsterten Liege in einer eisernen Lunge. In seiner Wohnung gab es weder Bett noch Couch. Das erste der sechs verabredeten Treffen fand im barrierefreien Apartment eines befreundeten Paares statt. Und während „The Sessions“ diese Begegnung mit Humor und einer gewissen Komik darstellt, ist bei der Schilderung in O’Briens Artikel vor allem eines offensichtlich: seine Angst. Die Vorstellung von Intimität war in seinem Leben so fern von allem bisher gewesenen, dass alleine die Konfrontation mit Cheryls Nacktheit gänzlich ungeheuerlich erschien.
“Wann immer ich zuvor nackt gewesen war – umgeben von Pflegern, Ärzten und Krankenschwestern – hatte ich so getan als wäre ich es nicht“, schrieb er, und als Leser kommt man nicht umhin, eine gewisse Traurigkeit zu verspüren bei der Überlegung, was O’Brien, der seit seinem siebten Lebensjahr ein Pflegefall gewesen war, bei seinem Heranwachsen vom Jungen zum Mann entgangen sein musste. „Nun, da ich mit einer anderen nackten Person im Bett war, musste ich nicht so tun: Ich war entkleidet, sie war entkleidet, und es schien völlig normal zu sein. Wie erstaunlich! Ich hatte irgendwie erwartet, dass Gott – oder meine Eltern – diesen Moment verhindern würden.”
Körperwahrnehmungsübungen
Wenn die Tatsache, mit einer nackten Frau ein Bett zu teilen, für O‘Brien schon eine Herausforderung war, war es für ihn, das bisher asexuelle Wesen, noch schwieriger, damit umzugehen und von dieser berührt zu werden. Mit, wie Cohen-Green es nannte, Körperwahrnehmungsübungen, begann sie zu versuchen, die Ungeheuerlichkeit in Selbstverständlichkeit umzuwandeln.
“Sie streichelte mein Haar und sagte mir wie schön es sich anfühlte. Ich war überrascht; ich hatte mein Haar oder sonst einen Teil von mir noch nie als schön empfunden. Dass es da offenbar doch etwas gab, steigerte mein Selbstvertrauen. Sie erklärte mir, was es mit Körperwahrnehmungsübungen auf sich hatte: Zuerst würde sie mit ihrer Hand über meinen Körper streicheln und ich könne sie küssen wann immer ich wollte. Ich sagte ihr, dass ich wünschte ich wäre in der Lage sie zu streicheln, aber sie versicherte mir, dass ich sie mit meinem Mund und meiner Zunge erregen könne. Sie verteile Duftöl auf ihren Händen und strich dann in langsamen Kreisen über meine Brust und meine Arme. Sie sprach beruhigend und anerkennend mit einer leisen, ruhigen Stimme, während ich nervös über alles plapperte, was mir gerade in den Sinn kam. Dann frage ich, ob ich eine ihrer Brüste küssen dürfte. Sie schmiegte sich an mich, so dass ich ihre linke Brust küssen konnte. So weich.”
Offen sprach O’Brien auch über das unvollständige und unrealistische Bild, das er von seinem Körper und ultimativ von seiner Männlichkeit hatte, und wie die Sexualbegleiterin ihm half, es zu überwinden. Sie hielt ihm einen Spiegel vor und ermöglichte es ihm so zum ersten Mal seit seiner Kindheit seine Genitalien zu sehen. Zu seiner Überraschung sah er eigentlich ganz normal aus, war nicht die „schrecklich verdrehte und ausgemergelte Figur“ für die er sich immer gehalten hatte. Seit seiner Erkrankung vor über dreißig Jahren war die Sicht auf seinen Unterleib durch seinen verdrehten Brustkorb verdeckt worden, und seit damals war ihm dieser Teil seiner Selbst als unwirklich erschienen. Doch nun, „… da ich meine Geschlechtsorgane sah, wurde es leichter für mich, mich als erwachsenen Mann zu akzeptieren.“
Anders als im Film ist der Weg, den der Erzähler nun zum ersten „richtigen“ Mal hinter sich bringen muss, fast schon schmerzhaft zu verfolgen. Seine Orgasmen sind immer verfrüht – und er leidet darunter. Sein Wunsch seiner Partnerin etwas zu geben, ihr Lust zu bereiten, blieb unerfüllt. Scham und Selbsthass nahmen bis zu einem gewissen Grad alles Positive, was O’Brien aus diesen Erfahrungen hätte ziehen können, bis er Cheryl fragte, ob sie dächte, er wäre es wert körperlich geliebt zu werden, und sie antwortete, dass sie sich dessen sicher wäre. „Ich hätte fast geweint. Sie fand mich nicht abstoßend!“
Sein Ziel – andauernde Penetration und seine Sexualpartnerin zum Orgasmus zu bringen – erreichte O’Brien schließlich. Die verbleibenden vereinbarten Treffen sagten beide in gegenseitigem Einvernehmen ab, da O’Brien die Frage „Glaubst du, dass es irgendeinen Nutzen oder eine Erkenntnis gibt, die du aus einer weiteren Stunde ziehen könntest?“ mit einem klaren „Nein.“ beantworten konnte.
Sex = Erfüllung?
Dass die Surrogatpartnerschaft sein Leben verändern würde, war eine Hoffnung, die für O’Brien unerfüllt blieb. Zwar war er sexuell nicht mehr gänzlich ohne Erfahrungen, was ihn erleichterte, doch war er weiterhin, wie er schrieb, „…isoliert, teils wegen Polio, das mich zwingt fünf oder sechs Tage die Woche in einer Eisernen Lunge zu verbringen, und teils wegen meiner introvertierten, verschlossenen Persönlichkeit.“
Als er sich Jahre später die Frage stellte, ob die Treffen mit einer Sexualbegleiterin nun eine gute Idee gewesen wären, zog er folgendes Resümee:
„Eine Sache, die ich gelernt habe, ist, dass Geschlechtsverkehr kein Akt männlicher Aggression ist, sondern eine sanfte, für beide Partner spielerische Erfahrung. Aber kommt dieses Wissen zu spät für mich? … Mein Verlangen danach ,seelisch und körperlich geliebt zu werden, existiert gleichberechtigt neben meiner Isolation und der Furcht ihr zu entkommen. Diese Furcht ist zwiefältig: Ich befürchte, nichts als Ablehnung zu erfahren. Aber ich fürchte mich genauso davor, akzeptiert und geliebt zu werden. Denn wenn Letzteres eintreten sollte, werde ich mich verfluchen für all die Zeit, die ich verschwendet habe.“
Der Triumph des Mark O‘Brien
Der Artikel „On Seeing a Sex Surrogate“ lässt offen, ob O’Brien die Erfüllung findet, die er sucht. Tatsächlich führte er ein beruflich erfülltes Leben, arbeitete als Poet, Journalist und Schriftsteller und war Mitbegründer eines unabhängigen Verlages. Die letzten Jahre bis zu seinem Tod 1999 führte er eine glückliche Beziehung.
Sein langjähriger Freund und Kollege Wesley Smith schrieb in seinem Artikel „Mark O’Brien‘s Triumph“ aus dem Jahr 2012 als Reaktion auf die Veröffentlich des Films „The Sessions“: „Mark schlug sich gut; er schaffte das Rennen bis über die Ziellinie. Aber was wahrscheinlich am bemerkenswertesten ist, ist die Tatsache, dass er wirklich alles fand, wonach er gesucht hatte – auch wenn ihm selbst das vielleicht nie richtig bewusst war. Dies – und nicht der Verlust seiner Jungfräulichkeit – ist es, warum Mark O’Briens Leben gefeiert werden sollte.“
Für mehr Informationen zu “The Sessions” siehe: The Sessions – Sexualassistenz mit Helen Hunt
Für mehr Informationen zu assistierter Sexualität siehe: Assistierte Sexualität in Deutschland, Österreich und der Schweiz