Leben mit Querschnittlähmung: „Reserven für 120 Prozent“

„Ihr solltet 80 Prozent im normalen Leben geben – aber Reserven für 120 Prozent haben. Ihr dürft alles tun, aber ihr solltet nicht jammern!“ Harald Hilbig wollte Menschen mit und ohne Behinderung ermutigen. Er selbst war seit seiner Jugend ab C5 querschnittgelähmt, 3 Jahre nach dem Interview verstarb er.

Seine Freunde hatten ihn am Ufer des Weihers auf eine Luftmatratze gelegt. Um ihn herum: Viele Menschen, die an diesem Sommertag zum Baden hierhergekommen waren. Stimmengewirr, Aufregung, Schreie. Alle starrten ihn an – aber niemand half dem damals 16-jährigen. „Da wurde mir klar, dass ich ab jetzt alles selbst in die Hand nehmen muss“, erzählt der heute 52-Jährige.

„Ruft meine Eltern an! habe ich geschrien. Denn auf diese Idee war in ihrer Panik keiner meiner Freunde gekommen.“ Dem Vater gelingt es, einen Hubschrauber für seinen Sohn zu organisieren, doch auch in der Spezialklinik kann keiner der Ärzte etwas an der Diagnose ändern: Querschnitt ab Halswirbelsäule C5. Harald hatte einen Köpper in den unbekannten Badesee gemacht, seine 72 Kilogramm waren ungebremst gegen ein Hindernis geprallt.

Der erste C64

Mit 16 liegt er auf der Intensivstation. Mit 17 ist er wieder zu Hause. Er bereitet sich auf das Abitur vor, verbringt viel Zeit mit seinen Freunden – und viel Zeit mit sich allein. Vor allem die Tatsache, dass er keine Kontrolle mehr über seine Verdauungsorgane hat, macht ihm zu schaffen: „Damit wollte ich den anderen nicht dauernd auf die Nerven gehen. Das war und ist für mich das schlimmste überhaupt an der Querschnittlähmung.“

Statt zu resignieren schafft der Schüler sich seinen ersten Computer an: einen C64, an dem er tüfteln, lesen und lernen kann – und am dem er den Grundstock legt für die Fähigkeiten, die ihm heute ein erfülltes Berufs- und Privatleben ermöglichen.

Mit einem Tipp-Hämmerchen gestaltet er in seiner Freizeit Homepages und Flyer für Vereine, die sich der Inklusion widmen, und hilft so anderen Menschen. Während seiner Arbeitszeit sitzt er „vor Tabellen und schiebt Zahlen hin- und her.“ Im Klartext: Hilbig ist seit 23 Jahren beim Caritasverband Rheine als Verwaltungsangestellter in einer Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung tätig und macht dort u. a. für ca. 420 Klienten die Abrechnung bezüglich des Familienunterstützenden Dienstes über die Pflegeversicherung.

Selbstwertgefühl als Schutzschild 

Seine heutige Position hat er erreicht, weil er seit seinem Badeunfall immer wieder Zähne gezeigt und sich durchgebissen hat: „Gerade als ich noch jünger war, haben mich die Leute oft nicht ernst genommen. Sobald man im Rollstuhl sitzt, ist man ja automatisch kleiner als die anderen“, erzählt er. Unschöne Szenen habe es gegeben, bis hin zu Leuten, die ihm, dem Erwachsenen in Rollstuhl, den Kopf getätschelt und ihn mit „na, mein Kleiner“ angesprochen hätten.

Als Schutzschild legt er sich ein gewisses Selbstwertgefühl zu und eine ernste Miene, kramt bei Bedarf beeindruckende Worte aus seinem Schullatein-Vokabular heraus und sorgt dafür, dass die Menschen ihn ernst nehmen. Beim Caritasverband findet er seine berufliche Heimat.

Hier kommen ihm seine Computerkenntnisse zugute: Er kann wie kein Zweiter in seiner Dienststelle mit dem PC umgehen. Dass seine Finger Lähmungserscheinungen zeigen und so vieles für ihn nicht möglich ist, spielt keine Rolle.

„Sich immer wieder selbst motivieren“

Im Laufe der Jahre eignet er sich großes Wissen an, nicht nur am PC. Er kennt wichtige Tricks und Paragraphen, mit denen Menschen, die auf Unterstützung zugreifen wollen/müssen, ihr Budget optimal ausnutzen können. Gerade „im Kampf mit Ämtern und Krankenkassen“ könne er inzwischen „quasseln wie ein Wasserfall.“

Seine Erfahrungen gibt er gerne an Menschen in „seinem“ körperlichen Behinderungsbereich weiter, weshalb er sich auch auf einen Aufruf von Der-Querschnitt.de meldete, in dem die Redaktion um Erfahrungsberichte ihrer User bat. Gesprächspartner unterstützt er mit konkreten Tipps, aber auch indem er sie ermutigt, selbst aktiv zu werden: „Geht ins Internet, da steht alles drin, rate ich ihnen. Informiert euch, auch wenn das ein paar Monate dauern kann. Und bleibt dran.“

Dran bleiben. Nicht aufgeben. Sich immer wieder selbst motivieren – er selbst gebraucht dafür eine prägnantere Formulierung, die mit „in den“ anfängt und mit „treten“ aufhört: das ist Hilbigs Credo.

Er hat sich sein Leben so eingerichtet, dass er „langfristig funktionieren“ kann. Eine eigene barrierefreie Wohnung, ein eigenes Einkommen waren ihm immer wichtig – die Angst, mangels Geld oder adäquatem verfügbarem Wohnraum ins Pflege- oder Altersheim zu müssen, begleitet ihn bei jeder längeren Erkrankung.

Er selbst wird von zwei Bufdis (junge Menschen, die sich im Bundesfreiwilligendienst engagieren und dafür u.a. ein Taschengeld erhalten) unterstützt. Sie begleiten ihn u.a. morgens zur Arbeit und stehen ihm abends zur Seite. „Ohne die Unterstützung der Zivis und heute Bufdis wäre ein selbstständiges Leben für mich so nicht möglich“, betont Hilbig.

Für die Sorgen anderer hat Hilbig ein offenes Ohr. Mit sich selbst geht er härter um. „Gesprächspartnern erzähle ich oft, wie ich es gehalten habe: Ich habe im normalen Leben 80 Prozent gegeben, aber immer Reserven für 120 Prozent gehabt. Ich habe alles getan, was ich wollte und konnte, aber nie gejammert!“. So habe er seinen Weg gefunden, zu beweisen, was er draufhat. „Und ob ich im stillen Kämmerchen dann doch manchmal geweint habe, das geht niemanden etwas an.“


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