Meine Querschnittlähmung und ich: Ich will nicht werden wie der Mann vorm Bäcker

Einer meiner Albträume: Ich mache im Park ein Nickerchen, dabei rutscht mir die Mütze vom Kopf in den Schoss, und als ich wieder aufwache, liegen in der Mütze ein Euro und 80 Cent, die mitleidige Passanten mir geschenkt haben.

Schon mein Vater sagte immer: „Wie du kommst gegangen, so du wirst empfangen.“ Und auch mancher kritische Blick meiner Ehefrau lässt vermuten, dass sie die Lebensmaxime meines Vaters teilt.

Dabei sind Sorgen, ich würde mein Äußeres in irgendeiner Form vernachlässigen, völlig unbegründet. Denn vor den Lotterlook hat bei mir eine höhere Macht die Erinnerung an den Mann vorm Bäckerladen gestellt.

Der Mann vorm Bäckerladen war eine feste Institution meiner Kindheit und Jugend. Wenn ich zur Schule unterwegs war, musste ich an ihm vorbei. Jedes Mal hatte ich dabei ein mulmiges Gefühl: Ich hatte Geld für eine Schleckmuschel, der arme Kerl musste da in seinem Rollstuhl sitzen und um milde Gaben bitten. Dachte ich. Bis zu dem Tag, an dem meine Mutter mich morgens begleitete und den Herrn freundlich begrüßte – er war der Ehemann einer entfernten Bekannten und stand da nicht, um zu betteln, sondern weil er seine Frau zum Bäcker begleitet hatte.

Meine Gedankenkette damals ging wohl ungefähr so: Rollstuhl – komische abgewetzte Cordhose – also arm.

Völlig falsche Schublade

Da ich nichts am Rollstuhl ändern kann, bleibt mir nur eines: Ich mache mich immer schick, bevor ich das Haus verlasse. Denn so wie ich den Mann vorm Bäcker versehentlich in eine falsche Schublade eingeordnet hatte, so könnten ja auch andere mich in eine falsche Schublade einordnen. Ich will auf gar keinen Fall, dass irgendein Ladenbesitzer oder Passant mir heimlich ein belegtes Brötchen oder ein Zwei-Euro-Stück zusteckt, „weil ich das sicher gebrauchen kann“.

In Foren habe ich erfahren, dass das dem einen oder anderen Menschen im Rollstuhl angeblich bereits passiert ist. Umso mehr rege ich mich auf, wenn ich im Internet lese, dass Banden ihre „Profi-Bettler“ in Rollstühle setzen, um noch mehr Mitleid zu erregen und noch mehr Geld einzunehmen. Dann denke ich mir jedes Mal: Die sind schuld, wenn auch mir jemand mal verstohlen Geld zusteckt oder ich zumindest mit mitleidigen Blicken bedacht werde.

Spezielle Form der Selbst-Diskriminierung?

Vielleicht ist diese Angst aber auch ganz einfach eine seltene Form der Selbst-Diskriminierung. Womöglich schlummert in mir noch immer die Gedankenwelt des kleinen Jungen, der ich einmal war. Vielleicht bin ich irgendwo in meinem tiefsten Inneren immer noch davon überzeugt, dass eine körperliche Einschränkung etwas ist, dass bei anderen Menschen Mitleid auf der ganzen Linie hervorruft und sie vielleicht sogar dazu bringt, den Mensch im Rollstuhl nicht ganz für voll zu nehmen. Ich weiß, dass das Quatsch ist. Ich weiß aber auch, dass ich nur schwer etwas gegen dieses Gefühl tun kann.

Meine Frau übrigens mag zumindest die Konsequenz meiner Ängste und Überlegungen. Sie findet es toll, dass sie einen Mann hat, der auf sein Äußeres achtet, auch wenn sie nicht mit jedem seiner Kleidungsstücke einverstanden ist. Nebenbei bemerkt findet sie, dass ruhig jeder Mann sich so verhalten sollte wie ich: „Was da auf der Straße so unterwegs ist, ist nicht immer schön anzusehen!“

Ich fühle mich nicht wie Richard Gere

Und weil sie eine gute Frau ist, hat sie auch schon vorgesorgt für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich tatsächlich einmal mit 1,80 Euro im Hut heimkommen sollte: Seit 2014 klebt auf der Innenseite meines Schranks ein Zeitungsausschnitt: Richard Gere hatte für Filmaufnahmen als Obdachloser verkleidet in Mülltonnen herumgewühlt. Eine Touristin sah ihn, erkannte ihn aber nicht und schenkte ihm den Rest ihrer Pizza.

„Schau, sogar Richard Gere passiert so was“, sagte sie, als sie den Zettel anklebte, und meinte damit wohl, mir die Angst vor der falschen Schublade nehmen zu können. Hat aber nicht geklappt. Seither denke ich mir jeden Tag beim Ankleiden: „Wenn sogar Richard Gere für einen Penner gehalten wird, musst dir heute ganz besonders Mühe geben!“

Das tue ich dann auch. Und gefalle mir dabei ganz angstfrei.


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