Leben mit Querschnittlähmung: „Luxusquerschnitt und Exoskelette“
Natalie Greiner bezeichnet ihre Querschnittlähmung als „Luxusquerschnitt“. Nicht weil ihr Leben im Rollstuhl so luxuriös wäre, sondern weil ihre Lähmung sehr tief und inkomplett ist und sie kurze Strecken mit Gehhilfen gehen kann. Im Vergleich zu höheren Lähmungen also „Luxus pur“.

Natalie Greiner ist 15, als bei ihr nach einer verschleppten Infektionskrankheit eine Rückenmarksentzündung diagnostiziert wird. Seither ist die Medizinstudentin querschnittgelähmt. Da ihre Lähmung inkomplett und bei einer Läsionshöhe von L1 auch sehr niedrig ist, kann Natalie aufstehen und mit Gehhilfen kurze Stecken zu Fuß gehen, doch für langfristige Mobilität ist ihr der Rollstuhl ein wichtiges Hilfsmittel. Trotz ihrer vergleichsweise günstigen, von ihr selbst und anderen Betroffenen scherzhaft als „Luxusquerschnitt“ bezeichneten Lähmung, ist dies eine Situation, die für die heute 20-Jährige anfangs schwer zu akzeptieren ist.
„Der Rollstuhl war mir peinlich.“
„Ich habe zwar ´nur´ eine recht niedrige und inkomplette Lähmung, aber trotzdem fiel es mir besonders in den ersten zwei Jahren sehr schwer, damit umzugehen und mit mir selbst und der Situation halbwegs im Reinen zu sein. Ich wurde zwar von Außenstehenden dafür bewundert, wie gut ich mit meiner Erkrankung umgehen konnte, jedoch fühlte ich mich selbst damit überhaupt nicht wohl; mir war der Rollstuhl peinlich, mir war es peinlich als Jugendliche behindert und auf viel Hilfe meiner Eltern angewiesen zu sein und eben einfach nicht so zu sein, wie alle anderen.“
Dieses Gefühl ändert sich erst, als Natalie nach dem Abitur zu Therapiezwecken für ein paar Monate in eine andere Stadt zieht und ohne die ständige Hilfe ihrer Eltern zurechtkommen muss. So bemerkt sie, dass sie durchaus selbstständig leben kann. Durch diese Erfahrung und auch durch den Kontakt zu anderen Rollstuhlfahrern beginnt sie ihre Behinderung zu akzeptieren. „Natürlich ist trotzdem nicht alles an der Situation toll“, sagt sie. „Aber ich kann seitdem auch viele positive Folgen der Erkrankung sehen. Man lernt viel über sich selbst und über andere; man lernt, Familie und Freunde zu schätzen und man lernt, das Leben nicht zu ernst zu nehmen. Ohne die Querschnittlähmung wäre ich eben nicht der Mensch, der ich heute bin.“
Erfahrungen teilen: „Die Geschichten anderer helfen am besten.“
Natalie ist ein großer Fan von der Idee, gemachte Erfahrungen zu teilen, um anderen zu helfen. Deshalb war sie vom Aufruf der Redaktion im Mai auch ganz begeistert. „Ich bin der Meinung, dass Geschichten anderer Betroffener einem in schwierigen Zeiten immer noch am besten helfen und wünschte, ich hätte so etwas in meiner Akutphase gelesen. Leider stieß ich erst nach zwei, drei Jahren auf Erfahrungsberichte und Blogs anderer jüngerer querschnittgelähmter Frauen und Mädchen. Bis dahin hatte ich immer das Gefühl, ziemlich alleine dazustehen; auch in der Reha lernte ich kein Mädchen in meinem Alter mit Querschnitt kennen, was mir sicherlich viel geholfen hätte.“
„Meine Erfahrung ist also einfach, dass man als junges Mädchen mit Behinderung – ich kenne die Situation ja nur aus dieser Perspektive – ziemlich Schwierigkeiten haben kann, Anschluss zu Gleichgesinnten zu finden und damit Erfahrungen und Ähnliches auszutauschen. Man wird in sozialen Netzwerken quasi bombardiert mit Bildern von hübschen, sportlichen Mädchen, die scheinbar alle glückliche Leben führen und obwohl der Verstand weiß, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat, bekommt man, wenn man nicht ganz so dicke Haut hat, das Gefühl, man wäre nun irgendwie weniger wert. Und deshalb ist es eben wichtig, von anderen jungen Menschen in ähnlichen Situationen zu hören, die zufrieden mit ihrem Leben sind; die mit sich und ihren Einschränkungen klar kommen und selbstbewusst im Leben stehen.“
Luxusquerschnitt
Seit August 2017 bloggt Natalie auf Luxusquerschnitt.blogspot.com über ihr Leben mit Querschnittlähmung. Sie sagt: „Ich möchte anderen Menschen – egal welchen Alters und Geschlechts – das Gefühl des Alleinseins nehmen. Auf meinem Blog will ich zeigen, dass das Leben mit Querschnitt nicht schlechter sein muss als ohne. Außerdem schreibe ich mir ein bisschen den Frust über den Umgang mit Menschen mit Behinderung oder meine persönlichen Einschränkungen von der Seele…“ … worin sich viele Leser wiederfinden dürften.
Zudem bloggt Natalie über eine Erfahrung, die nicht jeder Mensch mit Querschnittlähmung – nicht einmal jeder Mensch mit inkompletter Querschnittlähmung – gemacht haben dürfte. Die aber im Leben von so manchem Rollstuhlfahrer zumindest einmal als Fragezeichen aufgetaucht sein könnte. Nämlich über die Verwendung eines Exoskeletts.
Gehtraining mit dem Exoskelett: „Ich profitiere noch heute davon.“
In Bochum können sich Menschen mit inkompletter Querschnittlähmung und vorhandener Armkraft sowie Restimpulsen in den unteren Extremitäten schon seit mehreren Jahren einem Gehtraining mit dem Exoskelett HAL des Herstellers Cyberdyne Robotics unterziehen, das auf eine Verbesserung oder ein Wiedererlangen der Gehfähigkeit abzielt. 2016 nahm Natalie an diesem Training teil und berichtet: „Im Juli 2015 lief ich also erstmals probehalber mit dem HAL auf dem Laufband. Das Probetraining erfüllte mich mit Hoffnung, da ich medizinisch gesehen wirklich gut dafür geeignet war. Meine Restfunktionen haben ausgereicht, dem Roboter die nötigen Signale zu übermitteln.“
Auch mit diesem positiven Bescheid ist es nicht einfach eine Therapie genehmigt zu bekommen. „Nach monatelangem Warten und viel Überredungskunst und Hilfe und Widerspruchschreiben und Hoffen und Drängeln und Vitamin B (traurig, aber wahr) bekam ich etwa ein halbes Jahr später die Zusage, dass meine Krankenkasse die Kosten für die Therapie für drei Monate tragen wird. Noch dazu durfte ich in dieser Zeit in einem zur Verfügung gestellten Appartement wohnen.“ Diese Wohnung mit Balkon stellt Cyberdyne den Patienten in Bochum zur Verfügung und sie ist aus Natalies Sicht mehr als ausreichend groß, perfekt barrierefreie und schon fertig eingerichtet.
In dieser Zeit lernt die junge Frau, wie es ist, auf sich alleine gestellt zu sein. Und kommt zu dem Schluss, dass das gar nicht so schwer ist. Sie lernt neue Leute kennen, besucht zum ersten Mal in ihrem Leben ein Fußballstadion und überwindet sich, abends ganz allein auszugehen. „Ohne Begleitung. Im Rollstuhl. Ein paar Monate vorher wäre das unvorstellbar gewesen.“
Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit
Neben diesem positiven Einfluss auf ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstwirksamkeit ist es natürlich das Geh- und Fitnesstraining, aus dem Natalie den größten Nutzen zieht. Die Anstrengung sei dabei nicht zu unterschätzen. Die ersten Trainingseinheiten seien sehr kräftezehrend gewesen, doch die Mühe lohnte sich: „Insgesamt hat mir das Training körperliche Fitness gegeben; ebenso ein besseres Gefühl für meinen Körper und vor allem Muskelzuwachs. Gemessen wurde dieser in regelmäßigen Abständen und besonders meine Oberschenkel nahmen an Umfang zu. Auch mein Gleichgewicht, meine Stabilität und somit die Sicherheit beim Laufen und die Gehgeschwindigkeit selbst verbesserten sich; wovon ich auch heute noch profitiere.“
Sie ist den Menschen, die sie auf dem Weg zu dieser Erkenntnis und auch zu dieser neuen Fitnessstufe begleitetet und unterstützt haben, sehr dankbar.
„Ich weiß, dass das Training bewirken sollte, dass ich den Rollstuhl weniger brauche und vielleicht eines Tages wieder frei laufen kann. Natürlich wäre das nach wie vor wahnsinnig schön und erstrebenswert, aber ich habe durch diese Erfahrungen gelernt, dass es okay ist, im Rollstuhl zu sitzen.“
Für mehr von Natalie Greiner siehe: Luxusquerschnitt.blogspot.com
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