Meine Querschnittlähmung und ich: Mein Arzt muss auch nicht alles wissen. Oder?

Ich bin ein ehrlicher Mensch. Ehrlich! Nur zwei Personen lüge ich an: Meine Frau (neue Bluse, neue Frisur) und meinen Arzt (Lebenswandel). Ersteres mag mitunter klug sein, letzteres nicht unbedingt …

Ich habe schon genug Blasenentzündungen mitgemacht, an meinem Körper Dekubitus diverser Grade entdeckt und Infektionen angezogen in einer Häufigkeit, die Fußgänger so nicht kennen, um zu wissen, dass ich als Mensch mit Querschnittlähmung extra-gut auf meinen Körper (und damit auf meine Ernährung und Verdauung) achten sollte.

Zudem bin ich theoretisch durchaus dankbar dafür, dass ein kompetenter Mensch mein Gewicht und meine Ernährung im Auge behält. Praktisch bringe ich es aber häufig nicht über mich, meinem Arzt die volle Wahrheit zu sagen.

„Kann es sein, dass Sie seit Ihrem letzten Besuch ein bisschen zugelegt haben?“, fragt er zum Beispiel, wenn er sieht, dass ich die Sitzbreite meines Rollstuhls inzwischen ordentlich ausfülle. Und was antworte ich? „Kann sein. Aber ich weiß nicht, wieso. Denn ich achte auf meine Ernährung und bei Süßigkeiten und beim Alkohol halte ich mich zurück.“

Mein allwissender Arzt runzelt dann die Stirn, diagnostiziert meinen aktuellen Infekt und hält mir einen kleinen Vortrag darüber, dass gerade ich als querschnittgelähmter Mensch auf mein Gewicht achten sollte, weil

  • bei einer Rückenmarksverletzung die Immunabwehr (je nach Läsionshöhe) in unterschiedlichem Ausmaß gestört sein kann und der Betroffene sich dadurch häufiger Infekte zuzieht,
  • es Hinweise dafür gibt, dass sowohl Unter- als auch Übergewicht das Immunsystem in seinen Funktionen negativ beeinflussen können,
  • eine ausgewogene Ernährung das Immunsystem stärkt,
  • durch Übergewicht das Dekubitus-Risiko steigt: Das höhere Körpergewicht verstärkt den Auflagedruck auf Sitz- oder Liegefläche. Zudem kann es vor der Zeit nötig werden, den Rollstuhl anzupassen, um Druckstellen zu vermeiden,
  • die aktiven Gelenke stärker als nötig beansprucht werden.

Er hat ja recht! Es macht wirklich keinen Spaß, beim Transfer vom Rolli aufs Sofa zusätzlich zum medizinisch empfohlenen Körpergewicht noch ein paar Kilogramm Hüftgold herumwuchten zu müssen. Aber dennoch reagiere ich trotzig und halte mich mit relevanten Informationen (schon lange nicht mehr beim Sport gewesen, zu viel Schokolade gegessen, das Handbike verstaubt in der Garage, neue Leidenschaft für Wasabi-Erdnüsse entdeckt) zurück. Weil ich mich schäme, und weil ich mir eigentlich den Grundlagen-Vortrag (siehe oben), dessen Inhalt ich ohnehin kenne, ersparen will.

Immerhin: Mit der Flunkerei bin ich nicht allein. Eine deutsche Studie fand heraus, dass jeder Dritte beim Arzt lügt. Und wo wird am meisten gelogen? Beim Thema Gewicht und gesunde Ernährung. Sechs Prozent der Befragten erzählten ihrem Arzt, dass sie viel frisches Obst und Gemüse essen, obwohl sie es nicht tun. Weitere sechs Prozent nannten ihrem Arzt ein niedrigeres Gewicht (da bin ich gegenüber Fußgängern klar im Vorteil: Mein Arzt hat keine Rollstuhl-Waage, er kann meine Angaben also nicht überprüfen). Auch weit oben auf der Liste der Flunkereien: Die Einnahme von Medikamenten. Dem Arzt wird verschwiegen, wie viele Medikamente man wirklich schluckt, oder man vergisst zu erwähnen, dass man die Antibiotika doch nicht bis zum Ende genommen hat, oder dass man da noch ein anderes Medikament regelmäßig einnimmt, oder, oder, oder.

Eine aktuelle Studie aus den USA beschäftigte sich übrigens mit den Gründen, weshalb die Patienten beim Arzt Lügen.

Hier die Top-Five:

  • Sie wollten weder beurteilt noch belehrt werden.
  • Sie wollten nicht hören, wie schädlich das Verhalten ist.
  • Sie schämten sich.
  • Sie wollten nicht als schwieriger Patient gelten.
  • Sie wollten nicht mehr Zeit des Arztes in Anspruch nehmen.

In Punkt ein bis drei finde ich mich völlig wieder. Und leider reihe ich mich auch in die Dreierreihe von Leuten ein, die besonders häufig beim Arzt flunkern: Junge Menschen, Frauen – und Menschen, die ihren Gesundheitszustand selbst als schlechter als der Durchschnitt bewerten. Nun bin ich nicht krank, sondern habe eine Behinderung, aber da ich häufig kränkele und querschnittspezifische Komplikationen entwickele, fühle ich mich trotzdem angesprochen. Die US-Studie erhebt denn auch den Zeigefinger: Gerade die Patienten, die am dringendsten auf eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung angewiesen seien, neigten stärker als andere dazu, die Qualität ihrer medizinischen Versorgung zu torpedieren, indem sie wichtige Informationen zurückhielten.

Hm. Okay, okay. Werde ich halt beim nächsten Arztbesuch Tacheles reden und ganz ehrlich erzählen, welche homöopathischen Mittel ich auf Anraten meiner Frau nehme. Denn auch die können ja Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten haben. Und vielleicht erwähne ich sogar die Wasabi-Erdnüsse. Oder, wenn ich ganz gut bin, spare ich mir diesen Offenbarungseid und achte in den kommenden Wochen und Monaten einfach mal tatsächlich wieder stärker auf meine Ernährung. Meine Frau wird’s freuen, meinen Körper ebenfalls, und den Mediziner meines Vertrauens wird es vermutlich auch freuen, dass ich mein in diesem Punkt gestörtes Arzt-Patienten-Verhältnis ein bisschen aufbessere.


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