Sensibilisierungstrainings für Busfahrer, Beamte und Verkäufer

Das Europäische Kompetenzzentrum für Barrierefreiheit bietet Sensibilisierungskurse für Verkäufer, Busfahrer, Schüler und Verwaltungsangestellte an. Und angehende Polizisten lernen, wieso ein Ladendieb mit Querschnittlähmung kein Mitleid verdient, sondern eine Strafe.

Was ist für Rollstuhlfahrer der ideale Abstand zwischen zwei Supermarkt-Regalen? Die Schüler von Patrick Dohmen sind sich da oft schnell sicher: Etwa 75 Zentimeter! Denn dann kann ein einkaufender Mensch im Rollstuhl ohne viel Aufwand nach rechts und links ins Regal greifen.

Solche Antworten aus der Rubrik „Gut gedacht, aber … “ hört Dohmen des Öfteren. Er ist Vorsitzender des Europäischen Kompetenzzentrums für Barrierefreiheit e. V. (EUKOBA). Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine möglichst barrierefreie Umwelt zu schaffen – oder wie es der Verein selbst formuliert: Barrierefreiheit neu zu denken. Dafür bietet er zum Beispiel die Vergabe eines Gütesiegels und mit BPASS® ein Prüf-, Mess- und Monitoringsystem an, um die barrierefreie Infrastruktur von Städten und Gemeinden zu erfassen und sichtbar zu machen.

Als dritte Säule für die Brücke zur Barrierefreiheit veranstaltet der Verein „SENSE®“-Inhouse-Kurse zur Sensibilisierung durch Selbsterfahrung, die sich an Schüler, Studenten (z. B. der Fachrichtung Architektur), Auszubildende (z. B. im Gesundheitswesen oder im Handel) sowie arbeitende Menschen mit Kundenkontakt (z. B. Verkäufer, Busfahrer, aber auch Verwaltungsangestellte) richten.

Rund 45 Module stehen derzeit zur Verfügung – diverse Krankheitsbilder oder Mobilitätseinschränkungen können simuliert werden. Zusätzlich betreibt der Verein bei Aachen einen Lernladen, in dem die Auswirkungen von körperlichen Einschränkungen hautnah erfahren werden können. „Die Schulungsteilnehmer“, so erzählt Dohmen im Telefoninterview, „erhalten einen Einblick in die Bedürfnisse und Alltagsprobleme von Senioren und Menschen mit Beeinträchtigung.“

Klassiker der Fehl-Kommunikation

Im Modul „Mobilität“ z. B. werden mitunter Kursteilnehmer durch Bänder und Bandagen von der Taille abwärts bewegungslos gemacht und in einen Rollstuhl gesetzt. „Ganz schnell entsteht bei diesen Probanden der Eindruck, dass die anderen sie auch im übertragenen Sinne einfach sitzenlassen“, hat Dohmen beobachtet. Die Kursteilnehmer müssen sich mit mehreren simulierten Härtesituationen auseinandersetzen. Ein Klassiker: Kaum sitzen sie im Rollstuhl, wird nicht mehr mit ihnen, sondern nur noch über sie hinweg in der dritten Person gesprochen. Alles Wichtige wird mit der Begleitung ausgehandelt: „Ganz schlimm. Sobald ein Assistent dabei ist, wird in neun von zehn Fällen nur noch der Assistent angesprochen“.

Der Rollenwechsel und das damit Verbundene Wechselbad der Gefühle soll die Kursteilnehmer zur Empathie für Menschen in verschiedenen Lebenslagen befähigen. Das Wissen, wie sich eine bestimmte Situation anfühlt und mit welchen kleinen Verhaltensänderungen man sie in eine für alle positive Situation umwandeln könnte sollen die Verwaltungsangestellten, Verkäufer, Schüler, Studenten und Beamten mit in ihre Amtsstuben, Klassenräume und Läden nehmen.

Womit wir wieder bei den 75 Zentimetern zwischen den Regalen wären. Weshalb 150 cm Abstand (wie zum Beispiel auf Nullbarriere.de empfohlen) eher angebracht wären, verstehen künftige Ladenbauer, Innenarchitekten und Verkäufer besser, wenn sie einmal selbst in einem Rollstuhl gesessen sind und versucht haben, in einem schmalen Gang zu wenden. Oder sich zumindest ein bisschen zur Seite zu drehen, um die Auswahl an Marmeladen besser sehen zu können.

In den Inhouse-Schulungen lernen Busfahrer, wie es sich anfühlt, an der Haltestelle sitzengelassen zu werden. Und Ärzte und Krankenpfleger, wie es sich anfühlt, wenn man wie ein kleines Kind angesprochen wird. Gerade wird ein neues Lehrpflegezimmer eingerichtet, in dem z. B. angehende Sanitäter Transferhilfe „ohne akrobatische Verrenkungen“ üben können. Auch, um ihre eigene Gesundheit zu schützen.

Normalität in allen Facetten akzeptieren

„In erster Linie wollen wir klarmachen, dass das Thema Barrierefreiheit nicht nach der Rampe und vor der Toilette aufhört und setzen deshalb bei unseren Schulungen Dozenten ein, die keine fachspezifischen Vorträge halten, sondern aus dem Leben erzählen. Halt Menschen, die ihr Gegenüber auch am Hinterteil und nicht nur am Gesicht erkennen können“, sagt Dohmen. „Da ist oft viel Ironie dabei und eine große Menge Provokation. Denn wir wollen Behinderung oder Beeinträchtigung entzaubern, das soll für die Teilnehmer etwas ganz Normales werden.“

Dazu gehört auch, dass man die Normalität von Menschen mit Behinderung in all ihren Facetten anerkennt, was offenbar einigen schwer fällt: „Manchmal setzen wir bei Schulungen von Polizeischülern einen Ladendieb im Rollstuhl ein – den lassen viele aus Mitleid erst einmal ungestraft wegfahren.“

Auch andere Vereine und Institutionen bieten Sensibilisierungskurse an, siehe Beitrag Das Handbuch zum Projekt „kompetent mobil“. Auch die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung veranstaltet für Lehrpersonen, aber auch für Schulen, Unternehmen und Privatpersonen regelmäßig derartige Trainings.