Alle neune – Wiedersehen nach 30 Jahren

April 1989 in Recife: Die Kegelfreunde aus Deutschland freuen sich auf unvergessliche Tage in der brasilianischen Hafenstadt am Atlantischen Ozean. Gerade angekommen, geht es zum Schwimmen an den Pool. Voller Übermut springt Walter Vitt mehrmals ins seichte Wasser. Beim dritten Mal verkalkuliert er sich.

Ein knackendes Geräusch in seiner Halswirbelsäule beendet sein „erstes Leben“. Der dringende Rücktransport nach Deutschland verzögert sich und kostet ihn fast das Leben. In letzter Minute organisiert Prof. Hans Jürgen Gerner seinen Heimflug.

Eigentlich wollte der damals 36-Jährige vor einem Jobwechsel noch mit den Kumpels ein paar Tage Ferien im Nordosten Brasiliens machen. Wenige Wochen zuvor hatte der Kfz-Meister seine langjährige Anstellung als Werkstattleiter gekündigt und seinen Resturlaub dazu genutzt, das neugebaute Haus für den Einzug der Familie vorzubereiten. „Am Karsamstag 1989 zog ich mit meiner Frau und den kleinen Kindern nach dreijähriger Bauzeit endlich in das Haus. In Teilen war es da noch immer eine Baustelle“, erinnert sich Walter Vitt. Der Urlaub in Brasilien sollte ihn für die vielen Mühen entschädigen.

Stufen des Unglücks

Das neue Heim war mit seinen versetzten Geschossen damals sehr modern. „Während der Bauzeit wurde ich immer wieder auf die unterschiedlichen Ebenen im Haus angesprochen. ‚Du wirst auch nicht jünger‘, meinten die Freunde. Ich hielt sie für Besserwisser“, erinnert sich der Tetraplegiker. Er werde ja wohl auch im Alter die zwei Stufen aus eigener Kraft rauf- und runterkommen, dachte Vitt damals. „Das war eine grobe Fehleinschätzung.“

Nach seinem Badeunfall wird er noch bewusstlos auf einer einfachen Trage vom Hotel in den Rettungswagen gebracht – ohne jegliche Stabilisierung der geschädigten Halswirbelsäule. Das Hauptaugenmerk der Sanitäter liegt auf einer Platzwunde am Kopf. Zur Begutachtung der blutenden Wunde wird sein Kopf dann auch mehrmals hin- und hergedreht. Die Rettungsfahrt gerät zur Odyssee: Kein Krankenhaus will den deutschen Urlauber aufnehmen. Erst als seine Freunde 1.000 US-Dollar hinterlegen, erhält Walter Vitt die dringende medizinische Versorgung im Krankenhaus.

Und wer zahlt?

In der Klinik angekommen, gehen die Probleme erst richtig los. Für die gesamte Reisegruppe gibt es für den Fall einer Krankheit oder Unfalls zwar eine Reiserücktransportversicherung. Diese, so stellt sich dann heraus, gilt aber nur für den „Lebendtransport“. Sollte Walter Vitt das Verladen in den Rettungsflieger nach Deutschland nicht überleben, müssten die Hinterbliebenen die horrenden Kosten übernehmen. Immerhin 200.000 DM – viel Geld für eine junge Familie nach dem Bau ihres Eigenheims. Wie sollte die geforderte Bankbürgschaft erbracht werden?

Glück im Unglück

Es stellt sich als großes Glück heraus, dass die Familie von Walter Vitt über Umwege mit Prof. Hans Jürgen Gerner Kontakt aufnimmt. Der Spezialist – damals Chefarzt im Querschnittzentrum der Werner-Wicker-Klinik in Bad-Wildungen – ist auch Vorsitzender der FGQ und bietet Walter Vitt unkomplizierte und schnelle Hilfe an. „Die FGQ steht auch für die Idee der Einzelhilfe. Nicht zuletzt die häufig unklare Situation des Rücktransports war für uns einer der Auslöser, eine Selbsthilfeorganisation für Querschnittgelähmte aufzubauen“, erzählt Prof. Gerner. Anfang der Achtziger fing so alles an. „Für einen Rücktransport aus Spanien benötigten wir 25.000 DM. Innerhalb weniger Tage sammelten wir wo, wir konnten. Der Pfarrer und die Gemeinde des Betroffenen unterstützten uns, die letzten 5.000 DM gab damals mein Arbeitgeber, Werner Wicker persönlich“, erinnert sich Gerner.

Walter Vitt sagt: „Ich lebe nicht für meinen Querschnitt. Mein Querschnitt muss mit mir leben.“

Im Falle von Walter Vitt wendet sich der Chefarzt nun umgehend an die Klinik in Recife. Schnell wird ihm klar, dass dieser völlig unzureichend versorgt ist. Dennoch kann er nicht verhindern, dass der Patient in der Klinik operiert wird, entgegen seinem ausdrücklichen Ratschlag und dem Wunsch der Angehörigen. Der Schwerverletzte selbst hat kein Mitspracherecht. Er wird künstlich beatmet und kann sich nicht wehren. Walter Vitt wird Knochenmaterial aus dem Becken entnommen, das zusammen mit einer Metallplatte an der Halswirbelsäule angebracht wird. Später stellt sich heraus, dass die verwendeten Schrauben viel zu lang sind. Zudem fängt sich der zweifache Vater eine schwere Wundinfektion ein. Walter Vitt geht es nach der Operation zusehends schlechter.

Zurück in die Heimat

Ein Tauziehen um den Patienten beginnt: Die brasilianischen Ärzte beharren darauf, dass dieser in wenigen Wochen sitzend in einer normalen Verkehrsmaschine nach Deutschland zurückfliegen könne und die Versicherung weigert sich weiterhin, den Rücktransport ohne Bürgschaft zu ermöglichen. Fünf Tage nach dem Unfall zieht Prof. Gerner dann die Reißleine. In Anbetracht der unhaltbaren Situation übernimmt er die medizinische und finanzielle Verantwortung für den Rücktransport nach Deutschland. Die FGQ stellt die Bürgschaft, Gerner bestellt den Rettungsflieger, organisiert einen Stationsarzt aus seiner Klinik, eine Anästhesistin aus einem Krankenhaus in Düsseldorf sowie einen Pfleger der Flugrettung. Sie brechen mit vier Piloten in Richtung Brasilien auf. Zwei Piloten bringen das Team von Düsseldorf aus direkt über den Atlantik auf die Bahamas, von dort aus fliegen die anderen beiden Piloten weiter nach Recife.

Zurück ins Leben

Während der achtstündigen Zwangspause der Piloten in Recife, wird Walter Vitt transportfähig gemacht und in den Rettungsflieger verladen. Ausgestattet mit einer Halskrause und beatmet, geht es endlich zurück nach Hause. „Aufgrund meiner schlechten Verfassung flogen wir immer entlang der Küste, um für den Notfall innerhalb einer Stunde weitere medizinische Hilfe zu ermöglichen. So flogen wir von Flughafen zu Flughafen. Aber einmal im Rettungsflieger fühlteich mich in Sicherheit“, erinnert sich Vitt.

Nach über 22 Stunden Flugzeit setzt derLearjet am späten Abend auf dem Rollfeld in Kassel-Calden auf. Hier steht ein Rettungswagen bereit, der Walter Vitt in die Werner-Wicker-Klinik nach Bad-Wildungen bringt, wo seine Familie ihn bereits sehnlich erwartet. Neun Wochen später kann Vitt die Intensivstation wieder verlassen. Die zu langen Schrauben sind durch kürzere ersetzt, die Wundinfektion ist auskuriert und nach weiteren neun Monaten ist der Familienvater so fit, dass er nach Hause entlassen wird. In der ersten Zeit denkt Walter Vitt noch oft darüber nach, ob vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn er den Unfall in Deutschland erlitten hätte oder seine Halswirbelsäule von Anfang an fachmännisch stabilisiert worden wäre. Kurz nach der Entlassung aus der Intensivstation trifft er dann den Arzt, der ihn auf dem Rückflug von Brasilien begleitete, auf der Station. Dieser begrüßt ihn herzlich und meint: „Sie haben Glück gehabt. Drei oder vier Tage später hätte ich nicht mehr kommen brauchen“.

30 Jahre später beim Treffen in der Manfred-Sauer-Stiftung.

Walter Vitt hat ein „zweites Leben“ geschenkt bekommen und daraus etwas gemacht: Der Tetraplegiker arbeitet 23 Jahre in einer Spedition. Er sieht seine zwei Kinder aufwachsen, die längst verheiratet sind und die die Vitts zu vierfachen Großeltern gemacht haben. Sie pflegen einen großen Bekanntenkreis, zu dem auch nach wie vor die Kegelfreunde gehören, mit denen er in Brasilien war. Auch reist das Ehepaar Vitt weiterhin gerne. So organisiert Walter Vitt mit einem befreundeten Ehepaar bereits seit über 20 Jahren eine jährliche Bustour. „Im vergangenen Jahr waren wir mit 64 Personen in der Lüneburger Heide“, erzählt der umtriebige Rentner. Das Haus mit den versetzten Geschossen ist für Walter Vitt und seine Frau, die ihn seit über 29 Jahren liebevoll versorgt, noch heute sein Zuhause. Kleinere Umbauarbeiten und ein Treppen-Lifter wurden allerdings notwendig. Von dem Querschnitt hat er sich nicht unterkriegen lassen. Vitt lebt sein Leben nach dem Motto „Ich lebe nicht für meinen Querschnitt. Mein Querschnitt muss mit mir leben“.

30 Jahre später

„Das alles habe ich dem beherzten Eingreifen meines Lebensretters zu verdanken“, sagt der 66-Jährige und trifft diesen für ihn besonderen Menschen nach 30 Jahren erstmals wieder. Nach einer herzlichen Begrüßung kommt man schnell ins Gespräch, schwelgt in alten Zeiten und tauscht Familiengeschichten aus. Als Hans Jürgen Gerner fragt, welche Erinnerungen er an die Tage in Brasilien und den Rücktransport hat, antwortet Walter Vitt: „An den Rückflug aus Brasilien kann ich mich noch erinnern, als wäre es gestern passiert. Ein Höllentrip.“ „Aber es hat sich gelohnt“, entgegnet Gerner mit einem Lächeln. Da sind sie sich einig. Ebenso bezüglich des großen Glücks, Zeit mit den vielen Enkeln verbringen zu können. Zusammen haben sie neun.


Der Text wurde in Ausgabe 2/2019 des Paraplegiker erstveröffentlicht.