Elf Punkte, die das Leben von Menschen mit Behinderung verbessern könnten
Die UN-Behindertenrechtskonvention hat handfeste Auswirkungen auf das Leben von Menschen mit Querschnittlähmung und anderen Behinderungen. Hierzulande überwacht das Deutsche Institut für Menschenrechte die Umsetzung der Konvention – und nennt zum Auftakt der 20. Wahlperiode (2021 bis 2025) recht konkrete Punkte, an denen die Politik in den nächsten Jahren arbeiten sollte/muss.

Zu Beginn des 13-seitigen Dokuments findet das Institut deutliche Worte: „Auch 12 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK, Konvention) ist die gesellschaftliche Inklusion noch nicht weit genug fortgeschritten.“ Zwar seien auf Bundesebene „einige Fortschritte in Zielrichtung der Umsetzung der Konvention zu beobachten – etwa durch die Ausrichtung der Eingliederungshilfe an personenbezogenen Leistungen, die Umsetzung der Europäischen Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit ins deutsche Recht oder die Einführung einer Sozialleistung zur Assistenz im Krankenhaus. Doch es bestehen weiterhin große Umsetzungsdefizite, die die neue Bundesregierung in der nächsten Legislatur angehen muss.“ Außerdem mahnt das Institut: „Auch werden die Auswirkung politischer Entscheidungen auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht immer mitgedacht, wie unter anderem die Pandemiepolitik gezeigt hat. Ein konsequentes Disability Mainstreaming (Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung auf allen gesellschaftlichen Ebenen, Anm. der Redaktion) ist daher dringend notwendig.“
Das Institut hat elf Themenschwerpunkte lokalisiert, die von der Bundesregierung „vorrangig“ bearbeitet werden sollten.
1. Neuer Nationaler Aktionsplans zur Umsetzung der Konvention
Dieser Punkt scheint dem Institut besonders deshalb wichtig, weil ein Aktionsplan immer auch „Ausdruck des politischen Willens der gesamten Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ ist. (Siehe auch: Der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention)
2. Aus Versäumnissen während der Covid-19-Pandemie lernen
Hier wird das Institut sehr konkret: In der Covid-19-Pandemie sei weder die Lage behinderter Menschen ausreichend mitgedacht worden noch ihre Rechte durchgängig gewährleistet gewesen. Als Beispiel werden die „unzureichende oder verspätete Berücksichtigung in der Impfpriorisierung und bei der Vergabe von Schutzausrüstung“ genannt. Zudem hätten Menschen mit Behinderungen ein deutlich höheres Risiko, bei fehlenden intensivmedizinischen Ressourcen nicht behandelt zu werden, so konstatiert zumindest das Institut. (Für mehr Informationen zu diesem Themenkomplex siehe auch Corona – Der-Querschnitt.de)
3. Schutz vor Gewalt
Hier rät das Institut u. a. zu einem flächendeckenden barrierefreien Ausbau von Frauenhäusern und Beratungsangeboten sowie zu Empowerment von Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Frauen und Kindern. (Siehe auch: Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen).
4. Flächendeckende barrierefreie Gesundheitsversorgung
Zwar hat sich Deutschland durch die Unterzeichnung der UN-BRK dazu verpflichtet, für alle Menschen gleichermaßen Gesundheitsschutz und diskriminierungsfreien Zugang zu gesundheitlicher Versorgung zu garantieren. Aber auch hier sieht das Institut Handlungsbedarf: Deutschland sei „noch weit von einem inklusiven Gesundheitssystem entfernt: Es mangelt an baulicher Barrierefreiheit im Gesundheitssektor sowie an der barrierefreien Ausstattung der Dienstleistungen. In den Gesundheitsberufen gibt es außerdem noch kein ausreichendes Verständnis davon, was besondere behinderungsbedingte Bedarfe sind.“ Die Corona-Pandemie habe noch einmal den Blick auf bestehende Lücken und Barrieren verschärft.
Vorgeschlagene Maßnahmen (Auswahl):
- Verbindliche Mindeststandards für die Barrierefreiheit von Arztpraxen. (Siehe auch: Nur etwa jede vierte Arztpraxis barrierefrei – Forderung nach lückenloser Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen)
- Zugang zu gynäkologischen Versorgungsangeboten für Frauen mit Behinderungen zu verbessern, etwa durch den Ausbau gynäkologischer Spezialambulanzen. (Siehe auch Erfüllte Sexualität: Spezialsprechstunden für Menschen mit Querschnittlähmung sowie Noch immer Seltenheitswert: Neue gynäkologische Sprechstunde für mobilitätseingeschränkte Frauen)
- Nachbesserungen bei den Regelungen zur Assistenz im Krankenhaus. Der Leistungsumfang solle auch qualifizierte Assistenzleistungen außerhalb des Arbeitgebermodells beinhalten, so das Institut. (Siehe auch: Assistenz im Krankenhaus im Bundesrat beschlossen)
5. Generelle Barrierefreiheit
Das Institut sieht die Barrierefreiheit als „Schlüsselprinzip der UN-BRK“. In Deutschland bestünden jedoch „noch in allen Lebensbereichen Barrieren, die für Menschen mit Behinderungen weitreichende Folgen haben, angefangen vom öffentlichen Personenverkehr über den Wohnungsmarkt bis hin zu Büro- und Geschäftsgebäuden sowie Produkten, Dienstleistungen und Online-Angeboten.“
Vorgeschlagene Maßnahmen (Auswahl):
- Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes AGG. (Siehe auch: Gesetze, die Menschen mit Querschnittlähmung kennen sollten)
- Barrierefreiheit sollte als zwingendes Kriterium bei der Vergabe öffentlicher Fördergelder etabliert werden und Förderrichtlinien mehr Barrierefreiheit, z.B. auf dem Wohnungsmarkt und im Gesundheitssektor, schaffen.
6. Arbeitsmarkt
Auch hier gilt: Deutschland hat die UN-BRK unterschrieben und ist somit in der Pflicht. Dazu das Institut für Menschenrechte: „Trotz einer ganzen Palette von Förder- und Unterstützungsinstrumenten, wie etwa die Budgets für Arbeit und für Ausbildung, ist das gesamte System noch stark fragmentiert und eher an Institutionen und Strukturen ausgerichtet. Dies passt häufig nicht mit dem individuellen Bedarf bzw. Potenzial der Beteiligten, also der betroffenen Menschen mit Behinderungen und der Unternehmen, zusammen.“ (Für mehr Informationen zu diesem Themenkomplex siehe z.B.: Ab in den ersten Arbeitsmarkt! „Budget für Arbeit“ und „Budget für Ausbildung“ sollen dabei helfen, Mit Querschnittlähmung auf Arbeitssuche: Anreize für potenzielle Arbeitgeber sowie Inklusionsbarometer Arbeit 2021)
7. Bildung: Inklusiv und barrierefrei
Auch über zwölf Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK stagniere die Entwicklung hier – „trotz Inklusionsrhetorik“. (Eine Möglichkeit, inklusive Bildung voranzutreiben, stellt der Beitrag Inklusion als Beruf: Studiengänge und Ausbildungswege vor)
8. Psychiatrische Versorgung
Die Psychiatrie in Deutschland muss nach Einschätzung des Instituts „umfassend umgestaltet werden“, um eine diskriminierungsfreie Versorgung von Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen zu gewährleisten.
9. Selbstbestimmtes Leben und Wohnen
Artikel 19 der UN-BRK zurrt das Recht aller Menschen fest, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entschieden, wo und mit wem sie leben wollen. Die Umsetzung dieses Rechts auf selbstbestimmtes Leben und Inklusion in die Gemeinschaft scheitert nach Einschätzung des Instituts in Deutschland aber vor allem an folgenden Faktoren:
- Gravierender Mangel an barrierefreiem Wohnraum, der sich nach Einschätzung der Experten „in Zukunft aufgrund des wachsenden Bedarfs noch deutlich verschärfen wird.“ Insbesondere einkommensschwache Menschen mit Behinderungen hätten bereits heute „große Schwierigkeiten, eine angemessene Wohnung zu finden“. (Siehe auch: Kaum bezahlbare Wohnungen für Rollstuhlnutzer sowie : Finanzierung von barrierefreiem Wohnraum)
- Fehlende Barrierefreiheit öffentlicher Einrichtungen und Dienste für Menschen mit Behinderungen. (Siehe auch: Gesetz soll Barrierefreiheit in Deutschland stärken)
- Unterstützungssysteme, die weiterhin von Segregation, also der Aufteilung von Bevölkerungsgruppen, geprägt sind.
Vorgeschlagene Maßnahmen (Auswahl):
- Bundesweites Förderprogramm für barrierefreien Wohnraum, wozu im zitierten Papier auch zweckgebundene Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau zählen.
- Nachbesserungen im Bundesteilhabegesetz (siehe auch: Der lange Weg zum Bundesteilhabegesetz), z.B.:
- Abschaffung des Mehrkostenvorbehalts für ambulante Unterstützungsleistungen,
- Streichung von Einkommens- und Vermögensgrenzen (zum aktuellen Stand siehe: Eingliederungshilfen: Vermögensfreibeträge statt Mittellosigkeit),
- Sammlung detaillierter Daten, um die Verwirklichungsmöglichkeiten einzelner Maßnahmen besser einschätzen zu können – z.B. bei Themen wie Wunsch- und Wahlrecht bei der eigenen Wohnform, Bedarf an barrierefreiem Wohnraum oder Persönliches Budget (siehe auch: Das Persönliche Budget).
- Ausbau von Beratungsmöglichkeiten, z.B. durch die Finanzierung hauptamtlicher Peers in der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) (siehe auch: Unabhängig von Leistungsträgern: Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung).
10. Unterstützung von Eltern mit Behinderung
Menschen mit Behinderungen begegnen in Deutschland, so das Institut, „vielfältigen Barrieren in dem Bereich der sexuellen und reproduktiven Rechte sowie auch im Bereich der Elternschaft und des Familienlebens.“
Vorgeschlagene Maßnahmen (Auswahl):
- Flächendeckend barrierefreie gynäkologische Versorgung. (Siehe auch Erfüllte Sexualität: Spezialsprechstunden für Menschen mit Querschnittlähmung sowie Noch immer Seltenheitswert: Neue gynäkologische Sprechstunde für mobilitätseingeschränkte Frauen)
- Sensibilisierung der Fachkräfte im medizinischen Bereich für die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen mit Behinderungen.
- Das Modell der Elternassistenz als Sozialleistung sollte stärker in den Fokus gerückt werden und die entsprechenden Angebotsstrukturen ausgebaut werden. (Siehe auch: Ratgeber Elternassistenz)
11. Politische Partizipation stärken
Hier zeigt das Institut sich relativ zufrieden und lobt „gute Ansätze“ wie die Einführung eines Partizipationsfonds zum Empowerment von Selbstvertretungsorganisationen. Aber zu tun gibt es – natürlich – auch in diesem Bereich noch einiges.
Vorgeschlagene Maßnahmen (Auswahl):
- Mindeststandards für die Beteiligung von Menschen mit Behinderung am Gesetzgebungsverfahren.
- Mehr Menschen mit Behinderung in den Deutschen Bundestag! (Zum aktuellen Stand siehe: Stephanie Aeffner in Bundestag gewählt) Randbemerkung: auch in anderen politischen Gremien sind Menschen mit Behinderung nur relativ selten vertreten, siehe z.B. Beitrag Leben mit Querschnittlähmung: „Wir sind die Menschen, die mit Barrieren leben müssen und wir sind daher die Menschen, die gegen Barrieren vorgehen müssen.“
Dieser Text wurde mit größter Sorgfalt recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben. Unter keinen Umständen ersetzt er jedoch eine rechtliche oder fachliche Prüfung des Einzelfalls durch eine juristische Fachperson oder Menschen mit Qualifikationen in den entsprechenden Fachbereichen, z.B. Steuerrecht, Verwaltung. Der-Querschnitt.de führt keine Rechtsberatung durch.