Leben mit Querschnittlähmung: „Jeder muss den Gipfel seines eigenen Eisbergs selbst erklimmen“
Jede Behinderung ist so individuell wie der Fingerabdruck der dazugehörigen Person. Aus diesem Grund kann man Diagnosen kaum vergleichen – geschweige denn von sich selbst auf andere schließen. Zwei Personen mit der exakt gleichen Diagnose können verschiedenen Funktionen, Sensibilitätsareale oder Probleme haben. Grob werden sie sich schon ähneln – aber das war´s dann auch schon. Vergleichbar verhält es sich mit der Psyche. Der eine verkraftet den Unfall oder die Diagnose besser und der andere hat wirklich lange damit zu kämpfen – auch wenn die Diagnose doch mutmaßlich die gleiche ist.

Man kann die Psyche vermutlich am besten mit einem Eisberg vergleichen: Von außen betrachtet mag der Eisberg nicht ganz so dramatisch aussehen, aber der größte und schwerste Teil befindet sich unter Wasser, wo ihn keiner sieht. Und nur man selbst weiß im günstigsten Fall, wie groß das Eismassiv unter der Wasseroberfläche ist. Und genau aus dem Grund kann und werde ich auch in diesem Artikel nur über meine Erfahrungen sprechen, in der Hoffnung, dass sich jeder das nimmt, was er für richtig – und noch viel wichtiger – für hilfreich hält.
„Eigentlich habe ich nichts anders gemacht…“
Ich hatte nach meinem Unfall nie eine Depression, Suizidgedanken oder eine richtige „Down-Phase“. Klar war ich mal traurig, unfassbar sauer auf mich, auf alle und natürlich hatte ich einfach auch mal keine Motivation. Aber mit den drei Problemen zu Beginn des Absatzes ist das nicht zu vergleichen. Ich war einfach nie in diesem Loch, von dem mir sehr viele Patienten und Freunde erzählt haben. Und ich habe mich wirklich gefragt, was ich anders gemacht habe – denn eigentlich habe ich nichts anders gemacht…
Der meiner Meinung nach erste relevante Punkt beginnt noch vor dem Unfall. Ich war einer von diesen supergut gelaunten, fast schon nervig fröhlichen Menschen, denen man das Lachen nur schwer aus dem Gesicht wischen konnte. Einer von denen, der morgens um 7:00 Uhr mit einem viel zu erquicktem „Guten Morgen“ gegrüßt hat und der „Don´t worry, be happy“-pfeifend durch die Schulgänge gelaufen ist. Und wenn das jetzt zu sehr nach Metaphern klingt: Das war wirklich so. Das war ich damals – und das bin ich heute immer noch. Nur nicht mehr ganz so energetisch, denn ich werde schließlich auch älter. Aber das ist einfach eine Charaktereigenschaft, die ich – Gott sei Dank – nicht mehr los geworden bin. Und mit dieser optimistischen, fast nervig fröhlichen Einstellung, hatte ich den Unfall. Eine, wie ich finde, recht gute Basis, die mir später oft geholfen hat.
In den drei Tagen nach meinem Unfall ging natürlich einiges ab: Zwei Operationen, notdürftig spanisch mit den Krankenpflegerinnen und -pflegern lernen, sodass ich grob verstehe, was sie von mir wollen oder besser, was sie gleich mit mir vorhaben. Und da kann es sehr schnell gehen, dass man sich vor lauter Ungewissheit über die Diagnose und mögliche kurz- und langfristige Folgen ganz schnell in einer Art Gedankenkarussell befindet. Um da nicht durchzudrehen, habe ich die Zeit und die Gedanken in Handyspiele gesteckt. Das ist auch aus heutiger Sicht gar keine schlechte Strategie gewesen, denn innerhalb der ersten drei Monaten nach dem Unfall, wenn der Spinale Schock, der „Air-Bag“ des Nervensystems, langsam nachlässt, können sich einige Funktionen durchaus noch zum Besseren verändern. Deshalb sollte man sich nicht schon zu Beginn der Rehabilitation schwindlig denken und aufmerksam sein.
„Ich wäre gerne traurig gewesen – konnte es aber nicht.“
Nach meiner zweiten Operation kam dann mein chilenischer Chirurg, der einen unfassbar guten Job gemacht hat, zu mir und hat dann auf gebrochenem Englisch versucht, mir deutlich zu machen, dass ich „eventuell“, „vielleicht“, „möglicherweise“ nicht mehr laufen werde. Ich wollte wissen, was denn „eventuell, vielleicht, möglicherweise“ heißt und habe von ihm dann die Quote 90:10 bekommen, dass ich nicht mehr laufen werde. Und selbst die letzten 10 % gehen vom Zehen wackeln bis hin zu wirklich laufen. Also es war ziemlich klar: Ich werde nicht mehr laufen!
Ich wäre gerne traurig gewesen – konnte es aber nicht. Und zwei oder drei Tage später wusste ich dann auch warum: Nach einem sehr guten und lustigen Gespräch mit den Pflegekräften kam der Stationsarzt zu mir und meinte, dass man jetzt bei mir vermutlich die Antidepressiva absetzten könne. Ich war komplett irritiert, denn davon wusste ich nichts. Das Verabreichen von Antidepressiva ist wohl eine Standardprozedur, die man bei so schweren Fällen immer anwendet.
Mir hat es aber vermutlich geholfen. Denn keine zwei Stunden nach der Verkündung der Diagnose habe ich mir von der Station eine Tafel und einen Filzstift geben lassen und habe geplant. Ich habe die kommenden Tage geplant und hab mir folgende Frage gestellt: „Mit was kann ich wirklich arbeiten und in was bin ich wirklich gut? Mit meinen Füßen werde ich nicht viel anstellen können, meine Arme und Finger werden eventuell noch besser – aber was besser denn je funktioniert, ist mein Mundwerk und mein Kopf, was bei einem Sturz auf denselbigen nicht selbstverständlich ist. Ich stehe gerne vor Leuten, rede gerne, habe schon in der Schule gerne Referate gehalten und bringe gerne Leute zum Lachen. Das gibt mir einfach was.
„Habe mir eine Bergspitze, ein Ziel gesucht“
Mein Trick war generell, glaub ich, dass ich in einer Zeit, in der ich gefühlt komplett aus Raum und Zeit gefallen bin, eine Bergspitze, ein Ziel gesucht habe, das ich erreichen konnte. Wie schnell und auf welchem Weg spielt dabei absolut keine Rolle – nur die Richtung muss stimmen. Und noch eine Sache ist essenziell: Bei sehr schweren und traumatischen Ereignissen wird der Boden unter dir schnell zu einer Art Treibsand oder Sumpf. Bleibst du stehen, weil du einfach mal für fünf oder sechs Tage niemanden sehen, mit niemandem reden und allein sein willst, ist das ja voll in Ordnung und du sinkst vielleicht bis zu den Knöcheln ein. Ergo: Du kannst dich selbst befreien. Bewegst du dich aber für drei bis vier Wochen nicht, sinkst du vielleicht so tief, dass du nur noch durch professionelle Hilfe aus diesem Tief herauskommst.
Wenn du aber etwas tust, dich bewegst und Strecke machst, kannst du schonmal nicht mehr an der einen Stelle einsinken. Das bedeutet, dass ich damals schon verschiedene Projekte gestartet, Leute informativ ausgequetscht und sogar ein ganzes Festival organisiert habe, bei dem viel telefoniert und noch mehr gemailt wurde.
Moritz Brückner
Wer mehr über Moritz Brücker erfahren will, kann das unter anderem auf einem seiner Internet-Auftritte: Entweder auf seiner Website Moritzbrueckner.de: Querschnitt sehen – hören – verstehen oder auf seinem Instagramm-Account Wheelchair Dude • Moritz (@moritzbrueckner).
Viele Projekte sind nie fertig geworden. Aber ich habe auf dem Weg viele Leute kennengelernt, Kontakte geknüpft, bin versierter beim Scheiben von Mails und beim Telefonieren geworden. Auch wenn man auf diesem Weg mal in eine Sackgasse läuft, ist das nie umsonst, sondern sagt dir ja immerhin, dass das schonmal nicht der richtige Weg ist. Aufgrund dieser Erfahrungen bin ich jetzt Vortragsredner geworden und möchte gerne meine Erfahrungen und das Wissen teilen.
„Von vielen Ecken Hilfe bekommen“
Ich wäre aber heute zu 100 % nicht der, der ich jetzt sein darf, hätte ich nicht von so vielen Ecken Hilfe bekommen. Manchmal wurde mir sogar geholfen, ohne dass ich das wusste. Ob das jetzt ein mega-gutes, motivierendes Pflegepersonal, meine starke Familie, die richtig guten Freunde im Krankenhaus, oder jeder Einzelne war, der mich via Spende unterstützt hat. Ohne diese Menschen wäre mein Weg vermutlich wesentlich unruhiger verlaufen und ich bin allen dafür sehr dankbar. Ich wurde glaube ich einfach nur in den richtigen Momenten so gut gestützt, dass es mir erst im Nachhinein aufgefallen ist.
Abschließend kann ich aber auch nur sagen, dass jeder diesen Gipfel seines eigenen Eisberges selbst erklimmen muss. Ich hoffe, dass ich dir vielleicht ein bis zwei Stufen in die eisige Wand hauen konnte und wünsche jedem einen langen Atem und viel Kraft!
Der Text von Moritz Brückner wurde in Ausgabe 4/2022 der Zeitschrift RehaTreff unter der Überschrift „Die Psyche des Menschen ist unantastbar“ erstveröffentlicht. Der-Querschnitt.de bedankt sich ganz herzlich für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung. In dieser Reihe erschien auch sein Beitrag Themen, über die wenige Menschen mit Querschnittlähmung sprechen.
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