Neuro-urologische Versorgung querschnittgelähmter Patienten: Lebenslange Nachsorge dringend empfohlen
Bei einer Querschnittlähmung sind neurogene Funktionsstörungen des unteren Harntraktes, des Mastdarms und der Sexualfunktion zu erwarten. Bleiben diese unversorgt, drohen „schwerwiegende medizinische Komplikationen und eine gravierende Einschränkung der Lebensqualität“, so die aktuelle S2k-Leitlinie „Neuro-urologische Versorgung querschnittgelähmter Patienten“, die auch als Plädoyer für eine lebenslange Nachsorge gelesen werden kann.

Verantwortlich für die Leitlinie zeichnen Mitglieder des Arbeitskreises Neuro-Urologie der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie (DMGP). Der Leitlinie stellen sie drei Grundsätze voran, denen jede neuro-urologische Versorgung von Menschen mit Querschnittlähmung folgen sollte:
- Neuro-urologische Diagnostik und Therapie soll individualisiert erfolgen und alle Schädigungsaspekte berücksichtigen.
- Funktionsdefizite anderer Organsysteme sollen beachtet werden – weshalb Diagnostik und Therapie interdisziplinäres und interprofessionelles Denken voraussetzt.
- Den Betroffenen soll eine lebenslange, individuelle und risikoadaptierte Nachsorge zur Früherkennung und Prävention neuro-urologischer Komplikationen angeboten werden.
Lebenslange Nachsorge
Die Autorinnen und Autoren der Leitlinie raten dazu, die neuro-urologische Diagnostik möglichst früh – „spätestens nach Ende der spinalen Schockphase“ – zu starten. Und ein Leben lang weiterzuführen. Denn die „Funktionsveränderungen des unteren Harntraktes erfolgen häufig vom Patienten unbemerkt.“ Zudem unterlägen sie „insgesamt einer individuellen Dynamik mit lebenslangen Veränderungen, woran sich die Nachsorge orientieren muss.“
Allein schon aus Gründen der Selbstvorsorge sollten Menschen mit Querschnittlähmung also ein Leben lang regelmäßig zu Check-up-Terminen beim Neuro-Urologen ihres Vertrauens vorbeischauen. Denn im neuro-urologischen Bereich können Schädigungen des Rückenmarks zu komplexen Störungen führen, die je nach Läsionshöhe und Ausmaß der Querschnittlähmung stärker oder schwächer ausgeprägt sind. Als ein Beispiel sei der drohende Verlust der Nierenfunktion genannt – früher die häufigste Todesursache bei Menschen mit Querschnittlähmung. Deshalb betont die Leitlinie: „Die Kontrolle der Nierenfunktion mit geeigneten Methoden gehört zur lebenslangen Nachsorge querschnittgelähmter Patienten.“
Ungenügende Nachsorge und unzureichende Therapie einer Neurogenen Dysfunktion des unteren Harntraktes (NLUTD) kann jedoch noch weitere, gravierende Störungen und Schädigungen zur Folge haben, u.a.:
- Kontinenz/Harnwege (ausführliche Informationen zu diesem Thema siehe auch Kategorie Blase):
- Blasenhalsinsuffizienz / neurogene Belastungsinkontinenz
- Harninkontinenz/Harnverhalt
- Rezidivierende Harnwegsinfektionen. Bei Menschen mit Querschnittlähmung treten Harnwegsinfektionen zehnmal häufiger auf als beim Rest der Bevölkerung. Sie zählen zu den weltweit häufigsten Komplikationen bei Querschnittlähmung (siehe auch Beitrag Harnwegsinfektion: erkennen – behandeln – vorbeugen).
- Autonome Dysreflexie (siehe auch Beitrag Querschnittlähmung: Was geschieht bei einer Autonomen Dysreflexie?)
- Darmpassage- und Darmentleerungsstörung/Stuhlinkontinenz (siehe auch Beitrag Darmmanagement: Diese sechs Punkte unterstützen eine geplante und regelmäßige Entleerung)
- Beeinträchtigungen der Detrusor-Funktionalität, d.h. des Muskels, der für die Entleerung der Harnblase zuständig ist. Dieser Aspekt ist u.a. für die Vermeidung von Nierenfunktionsverlusten von großer Bedeutung. Mögliche Störungen:
- Neurogene Überaktivität
- Neurogene Unterkontraktilität oder Akontraktilität
- Detrusor-Blasenhals-Dyssynergie
- Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
- Neurogene Sexualfunktionsstörungen bei Mann und Frau. Hier rät die Leitlinie u.a., bei der Anamnese „die Libido und nicht nur die sexuelle Funktionsfähigkeit“ zu berücksichtigen und nennt im weiteren Verlauf Therapiemöglichkeiten für Männer und Frauen von Erektions- und Orgasmusfähigkeit bis zur Erfüllung eines Kinderwunsches (für weiterführende Informationen siehe auch Kategorie Sexualität).
- Veränderte Sensibilität der Harnblase, des Enddarms und der Genitalorgane
Hauptziel: Große Lebensqualität
Nach Abschluss der Akutbehandlung sei „die Erhaltung der Nierenfunktion, das Erreichen einer ausreichenden Speicherkapazität der Harnblase, das Vermeiden von Harnwegsinfektionen bzw. die Verminderung der Anzahl von Harnwegsinfektionen, sowie die Verbesserung der Lebensqualität einschließlich der Möglichkeit der Wiederherstellung der Kontinenz“ das erklärte Ziel der neuro-urologischen Versorgung, so die Leitlinie. Diese (Version 2.1., Erstveröffentlichung: 03/2016, aktuelle Überarbeitung: 09/2021, nächste Überprüfung: 09/2026) kann (externer Link) hier komplett nachgelesen werden.
Blasenentleerung
Als risikoärmste Methode zur Harnblasenentleerung bei Vorliegen einer neurogenen Dysfunktion des unteren Harntraktes (NLUTD) wird der intermittierende Einmalkatheterismus in aseptischer Technik genannt – hier sei eine Infektionsprophylaxe „nicht grundsätzlich erforderlich“. Bei tetraplegischen Männern, sehr selten auch bei Frauen, könne „die Etablierung einer getriggerten Reflexentleerung zur Vermeidung einer Fremdhilfeabhängigkeit eine adäquate Lösung darstellen. Grundsätzlich ist auf eine druckarme, möglichst vollständige Entleerung der Harnblase zu achten. Eine adäquate Hilfsmittelversorgung ist unerlässlich.“
Harnröhren-Dauerkatheter dagegen bezeichnet die Leitlinie bei der Behandlung der Funktionsstörung des unteren Harntraktes bei Querschnittlähmung „in der chronischen Phase relativ kontraindiziert“ – sie sollten „nur in speziellen Situationen nach Aufklärung über die Langzeit-Risiken akzeptiert werden“, im Falle einer dauerhaften Katheterversorgung biete der suprapubische Katheter meist Vorteile.
Dieser Text wurde mit größter Sorgfalt recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben. Die genannten Produkte, Therapien oder Mittel stellen keine Empfehlung der Redaktion dar und ersetzen in keinem Fall eine Beratung oder fachliche Prüfung des Einzelfalls durch medizinische Fachpersonen.