Manfred Sauer über die Rehabilitation bei Querschnittlähmung in Stoke Mandeville 1963
Vor 70 Jahren starben die meisten Menschen mit einer Querschnittlähmung ca. drei Monate nach Eintritt der Verletzung. Die Behandlungsmöglichkeiten bei der Therapie von Menschen mit Querschnittlähmung waren kaum entwickelt. Über Komplikationen wie Nierenprobleme und Druckstellen und deren Behandlung wussten Medizin und Pflege wenig; über entsprechende Prophylaxen noch weniger. Diese desolate Situation änderte sich dank des beispiellosen Einsatzes von Sir Ludwig Guttmann und seiner Einrichtung in Stoke Mandeville.

Nicht nur die medizinische Versorgung von Querschnittpatienten änderte sich mit den Ansätzen von Guttmann. Das Überleben und das Leben, die die neuen Ansätze sicherten, verlangten erstmals nach Teilhabe, Eigenverantwortung und dem Aufbau eines neuen Selbstbildes. So integrierte man in Stoke Mandeville erstmals auch schulische und berufliche Neuorientierung und sportliche Betätigung in die Rehabilitation der Patienten.
1963 erhielt Manfred Sauer als erster Deutscher die Erstrehabilitation in dem damals weltweit führenden Querschnittzentrum, zu einer Zeit, als noch Guttmann selbst die Klinik leitete. Während der sechs Monate, die Sauer im Stoke Mandeville Hospital verbrachte, lernte er die dortige Mentalität und den Geist der Einrichtung kennen und im Nachhinein, wie er sagt, dankbar schätzen. Dies sind seine Eindrücke:
„Vor 50 Jahren war die Welt eine andere. Die gesellschaftlichen Strukturen waren autoritär, der Zeitgeist geprägt von Erinnerungen an den Krieg, der 18 Jahre zuvor die Heimat der neuen und alten Generation in Schutt und Asche gelegt hatte. Politisch war 1963 der kalte Krieg auf dem Höhepunkt. Die Zeit war konservativ, die Jugend angepasst; nichts war zu ahnen von den 68ern und der antiautoritären Erziehung.
Wir Schüler hatten also keine Chance. Lehrer hatten immer Recht. Lehrer und Eltern steckten unter einer Decke, so schien es nicht nur mir damals.
In jenem Sommer hieß es für mich wider Willen: Ab nach England zum Englisch lernen, denn die 5 stand dem Abitur etwas im Wege. Die Gastfamilie wohnte am Themse-Ufer oberhalb Londons. Es war sommerlich warm gleich am ersten Tag meines Aufenthaltes. Nachts angekommen ging ich deshalb schon vor dem Frühstück schwimmen. Bei der Wiederbelebung war man mir dafür dankbar.
Eine Postkarten-Idylle: ein ruhiger Fluss, der Rasen bis ans Flussufer, eine steil abfallende Sandböschung und ein schmaler Sandstrand. Mit etwas Anlauf waren Kopfsprünge kein Problem. Doch als ich besonders weit tauchen wollte, lief mir ein Pudel in die Quere, so dass ich etwas weiter oberhalb abspringen musste – mit angelegten Armen – Seemannsköpper nannten wir das. Ich landete mit dem Kopf voraus auf einer kleinen Sandbank und ertrank, weil Passanten das Herumliegen auf der Sandbank für einen Scherz hielten.
Eine Krankenschwester hatte vom anderen Flussufer aus das Ganze beobachtet, schwamm herüber, zog mich aus dem Wasser und begann mit der Wiederbelebung. Bei dieser Prozedur hatte sich der herausgesprungene Wirbel wieder in seine Ursprungsposition gebracht, so dass alles normal aussah. Ich selbst war allerdings für die nächsten drei Tage abgemeldet.
Im nächstgelegenen Hospital kam dem Arzt das Ganze wohl spanisch vor und er entschied – Glück im Unglück – mit dem Helikopter ab nach Stoke Mandeville. Dort bestätigte sich der Halswirbelbruch.
Noch ein Glück im Unglück: Ich kam nicht wie alle anderen Ausländer auf die spezielle Ausländerstation, ich kam auf Station 1X, wo die Stationsschwester Sister Mac noch zu den Pionieren gehörte, die mit Dr. Guttmann in Stoke begonnen hatte. Reichlich Erfahrung als Military Nurse im Afrikafeldzug unter Montgomery gesammelt und militärische Tugenden verinnerlicht, behandelte sie mich erstaunlicherweise oder gerade deswegen recht vorurteilsfrei, obwohl sie die Hinweise, auf die durch Deutschland verübten Gräueltaten, ständig vor Augen hatte.
Viele Ärzte in Stoke Mandeville waren Juden, die vor Hitler fliehen mussten. Dr. Guttmann selbst verließ als leitender Arzt des jüdischen Hospitals und als Vorsitzender der jüdisch-schlesischen Ärzteorganisation Breslau im Frühjahr 1939 und hatte wie viele andere Auswanderer wieder eine Position im neuen Land aufzubauen. Das war sicher nicht einfach, denn viele Emigranten waren im Gastland nicht immer willkommen, da zusätzliche Konkurrenten. Vielleicht war das auch prägend für den Stil und die Zähigkeit, mit der Ziele in Stoke Mandeville verfolgt wurden. Einige Pfleger aus Polen hatten die Gräuel des Krieges überlebt und in Stoke eine neue Existenz gefunden. Dennoch erlebte ich keine Ressentiments – im Gegenteil. Es spricht für die Größe und kennzeichnet den Geist von Stoke Mandeville, nicht zurückzublicken, sondern in die Zukunft. Lebens- und Überlebenswille, wieder hin zur Leistung, waren bestimmend.
Die von Dr. Guttmann entwickelte und in Stoke seit 1944 bewährte Behandlungsmethode war anerkannt und noch einmalig. Deshalb kamen aus aller Welt Ärzte, Schwestern und Physiotherapeuten zum Hospitieren nach Stoke, um diese Behandlungsmethoden kennen zu lernen und zu übernehmen. Es war etwas Besonderes in Stoke zu sein, ob als Patient, Therapeut oder Arzt, und das spürte man selbst am Krankenbett. Was mich im nachhinein immer wieder fasziniert, waren die einfachen Mittel, mit denen Erstaunliches erreicht wurde.
Es schien selbstverständlich zu sein, ohne Druckstellen entlassen zu werden, mit intakter Harnröhre, Blase und Niere, ohne Infekte, ohne Kontrakturen, die Inkontinenz soweit im Griff, dass man wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen konnte. Stoke war einmalig, und so konnte man es sich leisten, Druck auf die Patienten auszuüben, damit sie etwas aus sich machten. Es gab kein Ausweichen und kein Verweigern des straffen Stundenplans mit viel Krankengymnastik, Ergotherapie, Sport etc.
Auf Station kam man auch nicht zur Ruhe. Kein Wunder in einem 20-Betten-Saal – heute unvorstellbar, dennoch nicht abschreckend. Die Betten waren in zwei Reihen angeordnet, in der Mitte ein breiter Flur. Auch zwischen den Betten war es geräumig – so schien es mir damals. Jedes Bett konnte mit einem hohen Vorhang vollkommen umschlossen werden. Hiervon wurde regelmäßig Gebrauch gemacht z. B. beim Lagern, Waschen, Katheterisieren, Abführen und Untersuchen. Eine ganz einfache Lösung, die Intimsphäre zu wahren.

Frischverletzt lag man oben nahe dem Stationszimmer und wanderte mit seinem Bett langsam nach unten, dem Fernseher und dem großen Esstisch entgegen. Dort angekommen war die Entlassung angesagt. Inzwischen hatte man eine Rehabilitation durchlaufen, geprägt von strenger Tagesordnung, Gehorsam und auch etwas Kasernenton.
Die wöchentlichen Visiten liefen so ab: Zuerst ging die streng hierarchisch formierte Gruppe zu den Frischverletzten am Eingang der Station. Dann zu den Mobilen im Rollstuhl, aufgestellt in Reih und Glied, Fußrasten in einer Flucht, neben sich die Urinflasche stehend, die auf Befehl hochgehalten wurde und Dr. Guttmann seinen Kommentar abgab. Er stellte kurze Fragen und bekam knappe Antworten. „Weiter so“ hieß es dann meistens von Dr. Guttmann und vom Patienten „Thank you, Sir“ und der nächste war dran – und jeder hatte etwas Lampenfieber.
Wenn diese Strenge Methode hatte, dann war es ein wohlüberlegtes Mittel, mit Autorität effizient eine Lebensumstellung einzupauken. Ich denke, dass wir auch heute vom Frischverletzten mehr fordern müssen, als einem manchmal lieb ist, anstatt zu diskutieren über etwas, was am Anfang des Rehabilitationsgeschehens vom Patienten nicht beurteilt bzw. in seiner Tragweite nicht ermessen werden kann. Dazu gehört mitunter auch Mut, sich unbeliebt zu machen, jedenfalls kurzfristig.
Vor einiger Zeit traf ich einen hohen Tetra C4/5 mit vollkommen gestreckten Fingern, also keiner Funktionshand. Das machte ihn total hilflos beim Schreiben, Trinken, Essen usw. Ich fragte ihn, ob man ihm keine Rolle in die Hand gebunden habe. Er hatte es damals abgelehnt, und das Behandlungs-Team hat diesen „freien Willen“ respektiert.
Hier greift ausnahmsweise mal das Sprichwort: Eine gute Diktatur ist besser als eine schlechte Demokratie.
Stoke war – so wie ich es erlebt habe – eine gute Diktatur. Das Diktat der Notwendigkeiten aus fundiertem Wissen, Verantwortungsbewusstsein und Überzeugung.
Wer das Angebot nicht annahm, konnte oder musste gehen – auch das habe ich erlebt. Das galt für alle, die am Rehabilitationsgeschehen teilgenommen haben. Die Regeln waren bekannt – und deshalb gab es keine Abmahnung. Zwei Pfleger hatten nachts einen Unsinn getrieben, der ins Auge hätte gehen können. Ich habe diese beiden Pfleger nicht mehr gesehen. Ein Para, gerade im Rollstuhl, wurde in sein Heimathospital verlegt, weil er häufiger wegen Alkohol abends nicht ins und morgens nicht aus dem Bett kam.
Disziplin verstand man militärisch also keine Widerrede. Anordnungen waren sachorientiert, aber keineswegs willkürlich. Das klingt alles sehr autoritär, besonders aus heutiger Sicht, und das war es auch – ich glaube sogar bewusst.
Dieses Führungsprinzip konnte nur funktionieren, weil das Klinikpersonal hierauf eingeschworen war und der einzelne Behinderte gleich die Perspektive bekam, wieder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu werden, allerdings im Rollstuhl, nicht krank, sondern gesund sitzend. Mit dem Rollstuhl die Umwelt zu erkunden. und sie als Herausforderung anzunehmen, sollte den Ehrgeiz wecken. Anerkennung wäre der Lohn! Der Sport diente diesem Gedanken und war fester Bestandteil der Physiotherapie.
Es ist schon spektakulär, wie sich in diesem Bereich im Laufe der Jahre ähnliches abzeichnet wie bei Fußgängern, nämlich eine Schlacht um das beste Equipment und ein Trainingsprogramm, dem sich der Tagesablauf unterordnet.
Heute wird mit Sport z. T. kompensiert. Sport ist nicht Mittel zum Zweck, sondern häufig Selbstzweck. Hier zählt inzwischen der Rekord mehr, als die individuelle Leistung. Diese Entwicklung ist nicht das, was Dr. Guttmann ursprünglich wollte. Er wollte Breitensport aus dem Alltagsrollstuhl heraus – Sport als anspornende Therapie, Sport als ein Mittel zur Kommunikation und Sport als eine Brücke zur Integration.
Die Paralympics 1972 fanden noch in diesem Geiste statt unter dem einzigartigen Motto
1000 Kämpfer – 1000 Sieger
Das Leben im Rollstuhl ist Kampf, Wissenschaft und Ärzte muten ihren Patienten diesen Kampf zu. Wissenschaft und Ärzte machen durch ihren Ehrgeiz, immer höhere Läsionen am Leben zu erhalten, den Kampf härter oder gar aussichtslos.
Das kann deprimierend sein.
Als mein Vater kurz nach meinem Unfall deprimiert das erste Gespräch mit Dr. Guttmann hatte, machte er ihm mit Folgendem Mut:
„Ich mache Ihren Sohn zum Steuerzahler!“
Dieser Behauptung hat mein Vater erst zwei Jahre später allmählich Glauben schenken können.
Ich wurde in dem Glauben belassen, wieder zur Schule gehen zu können: Bei so viel jungen Schülern seien Treppen schließlich kein Problem. Dieser Zweckoptimismus half mir und meiner Familie anfangs sehr. Die Realität schlich sich von selbst ein und relativierte.
Nun gehöre ich zu den immer weniger werdenden Behinderten, die zwar nicht erfreut aber dennoch stolz darauf sind, Steuern zu zahlen. Ich gebe etwas an die Gesellschaft, die Solidargemeinschaft zurück, von der ich sehr viel nehme bzw. bekomme. Es gibt – glaube ich – nichts besseres für die angegriffene Psyche eines Querschnittgelähmten und besonders eines Tetraplegikers, als das Nehmen durch Geben etwas auszugleichen.
Von diesem positiven Lebensgefühl wird alles beeinflusst, vor allem auch die Gesundheit. Und so geschah, wie mir scheint, alles Streben und Denken nach meinem Unfall zur Erfüllung jenes Versprechens, das Dr. Guttmann meinem Vater gab. Dies ist die zentrale Botschaft, der Geist von Stoke Mandeville.“
Siehe auch: Sir Ludwig Guttmann: Vater der Querschnittgelähmten
Leser Peter Kuntz kommentierte zu diesem Beitrag:
„Eine sehr gute Beschreibung der damaligen Verhältnisse!
Ich fühle mich in die Zeit eines Dr. Paeslack zurückversetzt, wo nur eines zählte: Disziplin und üben, üben, üben, bis zum Umfallen.
Und das Wichtigste: Eigenverantwortung. In dieser Zeit war der Patient der Spezialist, nicht sein Hausarzt! Wer das nicht beachtete, ging unter. Das gilt zum Teil auch heute noch in einer Zeit, in der die Verantwortung für sich selbst gerne an Andere delegiert wird!
Auch mit Deiner Ansicht zum Stichwort “Steuerzahler” kann ich mich vollständig mit Dir identifizieren. Jeder Rollifahrer sollte stolz darauf sein, Steuern bezahlen zu müssen, denn es ist ein Beweis dafür, dass man nicht nur passiver “Leistungsempfänger” im weitesten Sinne ist, sonder auch ein aktiver “Leistungsträger”, im Rahmen seiner Möglichkeiten! Danke Manfred, dass Du uns alle mal wieder daran erinnert hast!“