Bewegung für mehr Teilhabe: NeuroMoves-Studie abgeschlossen
Wenn wir an die Forschung im Bereich Querschnittlähmung denken, dann kommen uns zunächst meist Labore, Stammzellen oder medikamentöse Therapien zur Rückenmarkregeneration in den Sinn. Doch der Wunsch nach einer Heilung der Querschnittlähmung steht im Widerspruch zur aktuellen Situation, in der weltweit keine zielführende Behandlung verfügbar ist. Einen gänzlich anderen Ansatz verfolgt die weniger bekannte Versorgungsforschung, die gesundheitsrelevante Dienstleistungen und Produkte unter Alltagsbedingungen erforscht.

Im Rahmen der Studie NeuroMoves wurde mit Unterstützung von acht Kliniken und verschiedenen Fachgesellschaften die Heil- und Hilfsmittelversorgung von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen in den acht Monaten nach der Entlassung aus der stationären Erstbehandlung untersucht. Nun liegen erste Ergebnisse vor.
Allgemeine Ziele der Versorgungsforschung sind die Beantwortung von klinischen, sozialmedizinischen und gesundheitsökonomischen Fragestellungen sowie die Analyse von Behandlungskonzepten. Wegen der klar umrissenen und gut zugänglichen Zielgruppe werden dabei in den vergangenen Jahren zunehmend Menschen mit einer Querschnittlähmung als „Modellgruppe“ herangezogen. Im Speziellen können die Ergebnisse aus den Fragestellungen bzgl. der Situation von querschnittgelähmten Menschen zu einer Reduzierung querschnittspezifischer Komplikationen, zu einem verbesserten Behandlungsergebnis sowie zu geringeren Behandlungskosten führen und ggf. auf andere Bereiche übertragen werden.
Aber auch für die Erforschung neuer Heilungsmethoden stellt die Versorgungsforschung einen wesentlichen Pfeiler für die Überführung von Forschungserkenntnissen aus dem Labor in die klinische Anwendung dar.
Versorgungsforschung im Bereich Querschnittlähmung
Ein zentrales Ziel der stationären Rehabilitationsbehandlung von neurologischen Patienten mit Lähmungssyndromen nach zentraler Nervenschädigungen (z. B. infolge einer Querschnittlähmung oder eines Schlaganfalls) ist die bestmögliche Wiederherstellung der Mobilität als Rollstuhlfahrer oder Fußgänger. Doch wie sich die Versorgungs- und Lebenssituation von zum Beispiel querschnittgelähmten Menschen in Deutschland im nachstationären Zeitraum entwickelt, ist bislang wenig bekannt. Es fehlen Daten dazu, wie sich der erreichte Mobilitätsstatus nach dem Übergang in das häusliche Umfeld weiterentwickelt. Ziel der NeuroMoves-Studie war daher, die Auswirkungen der in Anspruch genommenen ambulanten Therapien und der verfügbaren Mobilitätshilfen sowie die heil- und hilfsmittelbezogenen Faktoren zu identifizieren, welche mit einer Veränderung der Mobilität im nachstationären Setting verbunden sind.
An der Studie nahmen insgesamt 169 Betroffene mit neu aufgetretenen mobilitätseinschränkenden Lähmungssyndromeninfolge einer Querschnittlähmung oder eines Schlaganfalls teil. Die Probanden wurden am Ende der stationären Behandlung mit einem speziellen Activity-Tracker ausgestattet und über einen Zeitraum von acht Monaten im ambulanten Umfeld nachbeobachtet. Diese Tracker zeichneten dabei die täglich zurückgelegte Geh- oder Rollstuhlfahrstrecke auf.
„Die NeuroMoves-Studie versetzt uns in die Lage, systematische und umfassende Erkenntnisse über die Versorgungssituation von Menschen mit Querschnittlähmung im Hinblick auf die objektiv gemessene Alltagsmobilität zu gewinnen.“
Prof. Dr. Norbert Weidner
An drei Zeitpunkten (am Ende des stationären Aufenthaltes sowie vier und acht Monate danach) wurden mittels standardisierten Aktivitätstests und mittels Fragebogen Informationen erhoben. Darüber hinaus wurden über den achtmonatigen Beobachtungszeitraum die Mobilitäts- und Teilhabeziele und deren Erreichung sowohl von den Studienteilnehmern als auch von ihren Therapeuten durch eine App erfasst.
Erste Ergebnisse von NeuroMoves
Der Zeitraum der Rekrutierung für die NeuroMoves Studie fiel mitten in die COVID-19-Pandemie, so dass der Einschluss von Menschen mit Lähmungssyndromen eine große Herausforderung darstellte. Die Unsicherheit zum Ende der Erstbehandlung, wie es gerade unter Pandemiebedingungen zu Hause weitergehen wird, hat viele potenziell Interessierte von einer Studienteilnahme abgehalten.
Dennoch haben sich in drei Jahren 169 Menschen dafür entschieden, über acht Monate ihre Aktivitätsdaten aufzuzeichnen und an der regelmäßigen App-Befragung teilzunehmen. Von 61 Teilnehmenden nach Schlaganfall und der erstaunlich hohen Zahl von 65 mit Querschnittlähmung liegen vollständig auswertbare Datensätze vor, was für ein hohes Engagement der Betroffenen und ihrer Angehörigen spricht.
„Die Daten der NeuroMoves-Studie werden Verbesserungpotenziale bei der ambulanten Versorgung aufzeigen.“
Prof. Dr. Ing. Rüdiger Rupp
Erste Auswertungen der Daten zeigen eine hohe Bandbreite der Bewegungsaktivität, die von einer Mobilität hauptsächlich im häuslichen Umfeld bis hin zu Geh- bzw. Rollstuhlstrecken von über 10 Kilometern an ausgewählten Tagen reicht.
Wichtige Momentaufnahme
Die mit der NeuroMoves-Studie durch Unterstützung des Innovationsfonds des G-BA erhobenen Daten stellen eine wichtige Momentaufnahme dar. Aus diesem tiefen Einblick in die ambulante Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln können zukünftig mögliche Zusammenhänge zwischen Art und Umfang der Heil- und Hilfsmittelversorgung auf die Teilhabe abgeleitet werden. Die weitere Auswertung der Ergebnisse von NeuroMoves wird dazu beitragen, die tatsächliche Verordnungs- und Versorgungspraxis für Heil- und Hilfsmittel im Hinblick auf eine bestmögliche selbstständige Mobilität zu betrachten und damit Hinweise für eine verbesserte und effizientere Anwendung von Heil- und Hilfsmitteln zu gewinnen.
NeuroMoves zeigte aber auch auf, dass eine verstärkte Unterstützung durch die Selbstbetroffenenverbände notwendig und sinnvoll ist, um relevante Daten zu erheben, die als Argumentationsgrundlage für eine verbesserte Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln dienen können. Menschen mit einer Paraplegie sowie professionell Versorgende sollten in Zukunft mit ihrer Erfahrung und praktischen Kenntnissen stärker zu einer patientenorientierten und versorgungsrelevanten Forschung beitragen.
Die Studie
NeuroMoves ist eine vom Innovationsfond des Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA) unter dem Förderkennzeichen 01VSF18032 geförderte multizentrische Studie mit zwei Schwerpunktregionen in Deutschland (Rhein-Neckar-Raum und Schleswig-Holstein). Neben der Klinik für Paraplegiologie des Universitätsklinikums Heidelberg sind folgende Spezialzentren zur Behandlung/Rehabilitation von Querschnittgelähmten und Patienten nach Schlaganfall beteiligt:
- Kliniken Schmieder, Heidelberg
- Heinrich-Sommer-Klinik, Bad Wildbad
- Sankt-Rochus-Kliniken, Bad Schönborn
- Segeberger Kliniken, Bad Segeberg
- August-Bier-Klinik, Bad Malente
- Klinikum Bad Bramstedt, Bad Bramstedt
- BG Klinikum Hamburg
Weitere Partner sind:
- Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung
- Medical Valley, Digital Health Application Center GmbH (dmac)
- Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland e. V. (FGQ)
- Schlaganfall-Ring Schleswig-Holstein
- Physio-Akademie des Deutschen Verbandes für Physiotherapie
- Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V.
Der Text wurde in Ausgabe 3/2023 der Zeitschrift „Der Paraplegiker“ erstveröffentlicht. Die Redaktion von Der-Querschnitt.de bedankt sich herzlich für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung.
Der-Querschnitt.de betreibt keine Forschung und entwickelt keine Produkte/Prototypen. Wer an der beschriebenen Methode oder den vorgestellten Prototypen Interesse hat, wendet sich bitte an die im Text genannten Einrichtungen.