Doppelter neuronaler Bypass, um bei Tetraplegiker Gefühl und Bewegungsfähigkeit wiederherzustellen

Doppelter neuronaler Bypass bildet elektronische Brücken: Mit Gehirnimplantaten, künstlicher Intelligenz und neuartiger Stimulationstechnologie wurden bei einem Tetraplegiker Bewegungsfähigkeit und Berührungssensibilität in den oberen Gliedmaßen wiederhergestellt. Während der OP war Patient Keith Thomas bei Bewusstsein – und konnte in Echtzeit Feedback geben, ob die Stimulation eines Gehirnareals sein Berührungsempfinden wiedererweckte oder nicht.

Ich kann Deine Hand spüren! Zum ersten Mal seit drei Jahren hat Tetraplegiker Keith in seiner Hand Gefühlsempfinden

Federführend bei der Entwicklung der neuen Bypass-Technologie war ein Team aus Forschern, Ingenieuren und Chirurgen, die an den New Yorker Feinstein Institutes for Medical Research im Bereich bioelektronische Medizin tätig sind. Am 9. März 2023 fand die 15-stündige Operation am offenen Gehirn statt. Monate später gingen die Institute mit den Ergebnissen der Operation an die Öffentlichkeit.

In einer laut Feinstein Institutes bisher einzigartigen klinischen Studie hat das Team fünf Mikrochips in das Gehirn des querschnittgelähmten Keith Thomas implantiert. Mithilfe neu entwickelter Algorithmen für künstliche Intelligenz (KI) wird sein Gehirn wieder mit Körper und Rückenmark verbunden. Dieser doppelte neuronale Bypass bildet elektronische Brücken, die den Informationsfluss zwischen dem gelähmten Körper und dem Gehirn des Mannes ermöglichen.

Armkraft mehr als verdoppelt

„Dies ist das erste Mal, dass Gehirn, Körper und Rückenmark bei einem querschnittgelähmten Menschen elektronisch miteinander verbunden wurden, um Bewegung und Empfindung dauerhaft wiederherzustellen“, sagt Chad Bouton, Professor am Institut für Bioelektronische Medizin. Er entwickelte die Technologie und ist Hauptforscher der klinischen Studie. „Wenn der Studienteilnehmer darüber nachdenkt, seinen Arm oder seine Hand zu bewegen, „laden“ wir sein Rückenmark auf und stimulieren sein Gehirn und seine Muskeln, um dabei zu helfen, Verbindungen wiederherzustellen, sensorisches Feedback zu geben und die Genesung zu fördern. Diese Art der gedankengesteuerten Therapie ist bahnbrechend.“

Keith Thomas wurden fünf winzige Mikrochips implantiert, die Teil des „doppelten neuronalen Bypasses“ bilden. Noch ist er auf die Unterstützung eines Labor-Computers angewiesen

Noch ist Patient Keith Thomas auf die Unterstützung eines Labor-Computers angewiesen, wenn er seinen Arm bewegen oder mit seiner Hand etwas fühlen will. Aber anscheinend unterstützt die Bypass-Technologie auch seine Genesung. Es sei bemerkenswert, betonen die Forscher, dass Thomas´ Armkraft sich seit der Aufnahme in die Studie mehr als verdoppelt habe. Er beginne sogar, neue Empfindungen in seinem Unterarm und Handgelenk zu verspüren, selbst wenn das System ausgeschaltet sei. Vielleicht, so die Hoffnung, kann durch die neue Technologie irgendwann ein Teil der Rückenmarksschädigungen endgültig rückgängig gemacht werden.

„Es ist überwältigend“

Keith Thomas ist der erste Mensch, der diese Technologie nutzt. Der heute 45-Jährige ist seit einem Tauchunfall im Jahr 2020 ab C4/C5 querschnittgelähmt. Mehr als sechs Monate lag er – auf dem Höhepunkt der Pandemie – allein und isoliert im Krankenhaus. Die Teilnahme an der klinischen Studie gab und gibt ihm neue Hoffnung. „Es gab eine Zeit, in der ich nicht wusste, ob ich überhaupt überleben würde, oder ehrlich gesagt, ob ich es wollte. Und jetzt spüre ich die Berührung von jemandem, der meine Hand hält. Es ist überwältigend“, sagte Thomas. „Das Einzige, was ich tun möchte, ist, anderen zu helfen. Wenn ich durch die Teilnahme an der Studie jemandem noch mehr helfen kann, als es mir geholfen hat, ist es das alles wert.“

Kartierung des Gehirns

Ärzte und Wissenschaftler verwendeten das Schädel-Modell, um herauszufinden, wo fünf winzige Computerchips im Gehirn platziert werden sollten

Die Spezialisten verbrachten Monate damit, das Gehirn von Keith Thomas mithilfe funktioneller MRTs zu kartieren. So lokalisierten sie die Bereiche, die sowohl für die Armbewegung als auch für das Berührungsempfinden in seiner Hand zuständig sind. Ausgestattet mit diesen Informationen führten Chirurgen am North Shore University Hospital (NSUH) die 15-stündige Operation durch. Ihr Patient war dabei teilweise wach. Während sie einzelne Areale seiner Gehirnoberfläche untersuchten, konnte Thomas ihnen direktes Feedback geben, wann er welche Empfindungen in seinen Händen spürte.

„Da wir Keiths Bilder hatten und er während Teilen seiner Operation mit uns sprach, wussten wir genau, wo die Gehirnimplantate platziert werden sollten“, sagt Dr. Ashesh Mehta, Professor am Institute of Bioelectronic Medicine, Direktor des Northwell-Labors für Human Brain Mapping und der Chirurg, der die Gehirnimplantate platzierte. „Wir haben zwei Chips in den Bereich eingesetzt, der für die Bewegung verantwortlich ist, und drei weitere in den Teil des Gehirns, der für Berührung und Gefühl in den Fingern verantwortlich ist.“

Prof. Chad Bouton (links) und Dr. Ashesh Mehta während der Operation.

Die gedankengesteuerte Therapie beginnt

Heute stellt Thomas über zwei „Anschlüsse“, die auf seiner Kopfhaut platziert wurden, eine Verbindung zu einem Computer her. Dieser liest mithilfe von KI seine Gedanken, interpretiert sie und setzt sie in die Tat um. Diese gedankengesteuerte Therapie ist die Grundlage des doppelten neuronalen Bypass-Ansatzes.

Ganz wörtlich übersetzt ist ein bypass (auch: by-pass) eine Umleitung, beziehungsweise die Umfahrung eines Hindernisses. In der Medizin wird damit eine operativ erstellte Überbrückung eines Hindernisses bezeichnet. Bei Herzerkrankungen überbrückt eine implantierte Vene eine Engstelle in den Herzkranzgefäßen. Das Blut kann wieder pulsieren. Beim doppelten neuronalen Bypass werden gleich zwei Brücken gebaut.

Im Falle von Keith Thomas beginnt der Bypass bei einem konkreten Wunsch von Thomas. Er denkt zum Beispiel darüber nach, seine Hand zu bewegen. Ein Gehirnimplantat fängt diese elektrischen Signale auf und sendet sie an einen Computer. Der Computer wiederum gibt die Signale an hochflexible, nicht-invasive Elektrodenpflaster weiter. Diese sind über Thomas´ Wirbelsäule und an den Handmuskeln in seinem Unterarm angebracht und stimulieren Funktionen.

Winzige Sensoren an seinen Fingerspitzen und seiner Handfläche schließlich senden Berührungs- und Druckinformationen zurück an den Sinnesbereich seines Gehirns. Diese zweigleisige elektronische Brücke bildet den neuartigen doppelten neuronalen Bypass, der sowohl die Bewegung als auch den Tastsinn wiederherstellen soll. Im Labor kann Thomas nun zum ersten Mal – drei Jahre nach seinem Unfall – seine Arme nach Belieben bewegen. Und endlich spürt er auch wieder die Berührung seiner Schwester, wenn sie seine Hand unterstützend hält.

Hoffnung: Bewegung, die anhält

Frühere Forschungen von Prof. Bouton und anderen Forschungsteams verwendeten einen einzelnen neuronalen Bypass, um Menschen dabei zu helfen, gelähmte Gliedmaßen wieder mit ihren Gedanken zu bewegen. In diesen Fällen implantierten Ärzte einen oder mehrere Mikrochips in das Gehirn, die die Rückenmarksverletzung vollständig umgingen. Parallel setzten sie Stimulatoren ein, um die Zielmuskeln zu aktivieren. Dieser Ansatz funktionierte jedoch nur, während die Teilnehmer an Computer angeschlossen waren, die oft nur in Labors zur Verfügung standen. Die Methode stellte weder Bewegung noch Gefühl in den Gliedmaßen wieder her, noch förderte sie eine langanhaltende natürliche Genesung, betont die Veröffentlichung der Feinstein Institutes.

Nun hoffe man, dass Gehirn, Körper und Rückenmark neu lernen, zu kommunizieren, und dank des doppelten neuronalen Bypasses neue Wege an der Verletzungsstelle entstehen, ähnlich wie sich eine Niere regenerieren kann, um Traumata oder Krankheiten zu überwinden.

Die Feinstein Institutes gehören zu Northwell Health, dem größten Gesundheitsdienstleister und privaten Arbeitgeber des Staates New York mit über 20 Krankenhäusern, über 890 ambulanten Einrichtungen, 83.000 Mitarbeitenden, 18.900 Krankenschwestern, 4.900 angestellten Ärzten und mehr als 18.500 Vertragsärzten. Die Feinstein Institutes for Medical Research sehen sich selbst als „globale wissenschaftliche Heimat der bioelektronischen Medizin“, die Molekularmedizin, Neurowissenschaften und biomedizinische Technik vereint. An den Feinstein-Instituten nutzen medizinische Forscher moderne Technologie, um neue gerätebasierte Therapien zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen zu entwickeln.


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