Gelesen: „Normal ist das aber nicht!“
Reimar Neumann, Beauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen im Landkreis Karlsruhe, hat ein pralles Buch über eine Rockband auf der Suche nach einer Sängerin geschrieben. Im Mittpunkt: Ein querschnittgelähmter Sänger und Rock-n-Roller namens Mike al Becker. „Normal ist das aber nicht!“ ist nicht unbedingt etwas für Zartbesaitete. Neumann lässt seine zumeist behinderten Protangonisten ihre Liebe zu Sex and Drugs and Alkohol recht freudig ausleben.

Reimanns Buch (Untertitel: Dringend gesucht: More Sex and Good Drugs and Only Rock ’n‘ Roll) ist laut Eigenbeschreibung ein „Roman über Musiker und unmusikalische Menschen vor, während und nach Zweierbeziehungen, unabhängig von Alkoholkonsum und anderen Handicaps.“
Im Mittelpunkt steht neben den bereits erwähnten Komponenten Sex, Drugs und Alkohol (die so oft im Buch thematisiert werden, dass sie auch in der Besprechung öfter als einmal auftauchen dürfen/sollen) auch die Liebe. Beziehungsweise die Partnersuche von Menschen mit Behinderung, aus der sich Irrungen und Wirrungen, Missverständnisse und Täuschungsmanöver ergeben. Irgendwie ist nahezu jeder in diesem Buch ständig auf der Suche: Nach einer Partnerin, nach einem Partner, nach Assistenz, nach der Liebe, nach einer Sängerin, nach einem Weg aus der Einsamkeit, nach einem Weg, Eingliederungshilfen zu erhalten, die einem eventuell nicht ganz zustehen, nach einer Methode, dem MD auszuweichen, und, und, und.
Switch zwischen Rollstuhlalltag und Musikermilieu
Die Komödie switcht zwischen Rollstuhlalltag (ein querschnittgelähmter Musiker, eine querschnittgelähmte Behördenmitarbeiterin, die auch Sängerin ist, und ein Mensch mit Spastik spielen drei der Hauptrollen) und Musikermilieu hin und her und bedient sich aus beiden Welten. Der Autor selbst kennt sich ebenfalls in beiden Welten aus: Er studierte Sozialwesen und arbeitete in unterschiedlichen Funktionen u.a. in der Verwaltung und der Behindertenhilfe. Und außerdem ist er Musiker, spielte früher selbst als Schlagzeuger in einer Band.
Bereits Ende der 80er Jahre gründete Neumann ein Künstlermanagement (www.handicap-event-management.de). Sein Ziel: „Öffentlichkeit zu erreichen, in Zusammenarbeit mit Künstlern mit Behinderung, die hohe Qualität bieten und sehr besonders sind.“ Neumann arbeitete mit Größen wie Klaus Kreuzeder (Ausnahmesaxofonist im Rollstuhl), Michael Kreutzer (gehörloser Pantomime von Weltruf), dem blinden Sänger Chris Brandon und dem querschnittgelähmten Rockmusiker Mike al Becker zusammen. „Ohne die Erfahrungen mit diesen behinderten Künstlern und Aktivisten wäre das Buch nicht entstanden, weil ich die Erfahrungen und Begegnungen nicht gehabt hätte. An dieser Stelle entsteht hohe Authentizität“, umreißt der Autor die Erfahrungen, die er in sein Buch einfließen ließ.
Auch Inklusionsthemen werden angesprochen
Neumann schrieb nicht nur eine Komödie über das wilde Musikerleben, ihm war es ein Anliegen, gleichzeitig wichtige Inklusionsthemen anzusprechen. Nahezu alle seiner Protagonisten leben mit einer Behinderung. Und sie führen auf fast 200 Seiten kein zartes Betroffenheitsleben – die Story und das Geschilderte gehen ganz schön zur Sache: „Ich glaube, die Story würde auch unter Fußgängern funktionieren, bekommt aber zusätzlichen Drive, weil zwei der Protagonisten im Rollstuhl sitzen, ein Spastiker die intellektuellen und erotischen Trümpfe in der Hand hält und eine blinde Sängerin auftaucht. Das gibt den Anlass, um auf aktuelle Themen in der Inklusionsdebatte hinzuweisen“, beantwortet der hauptberufliche Inklusionsexperte eine E-Mail-Anfrage der Redaktion.
„Ich kenne viel Literatur aus dem Fachbereich, auch authentische Bücher, Bücher von Betroffenen, von Eltern behinderter Menschen, die alle ihre Berechtigung haben, aber oft Traurigkeit und Betroffenheit auslösen, obwohl sie sich selber auf die Fahne schreiben, Mut machen zu wollen. Das widerspricht sich manchmal. Ich wollte Lockerheit schaffen, Menschen machen sich lustig, lachen miteinander, übereinander, verarschen sich, wie im richtigen Leben, unabhängig von Behinderung, anders als im richtigen Leben.“
„Normal ist das aber nicht!“ – aber ein bisschen real durchaus
Viele der geschilderten Szenen seien so oder ähnlich tatsächlich passiert, andere seien frei erfunden. Manche Dialoge habe es tatsächlich so gegeben, andere eben nicht.
Die Story sei zwar komplett frei erfunden, aber zu allen Figuren gebe es reale Vorbilder, von denen nur eines namentlich genannt wird: Der inzwischen verstorbene Mike al Becker und seine Band, die Simulanten (kleine Randbemerkung: Die Witwe des Musikers kennt das Buch).
Was Becker mit seinem Assistenten erlebt, was sein Kumpel mit seiner Assistentin nicht nur erlebt, sondern auch anstellt, und auch die amourösen und/oder substanzgestützten Aktionen der weiteren Protagonisten sind nicht unbedingt jugendfrei. Wer auf der Suche nach der blauen Blume der Romantik ist, dürfte in diesem Buch nicht das Gewünschte finden. Wer aber deftige Unterhaltung will, kann auf seine Kosten kommen.