Jede Bewegung beginnt im Kopf: Einsatz der Virtual-Reality-Therapie in der Rehabilitation bei Querschnittlähmung

Die Virtual-Reality-Therapie ergänzt neuerdings das Behandlungsspektrum einiger Kliniken bei Querschnittlähmung. Welche funktionellen Verbesserungen sie bringt, ist noch unklar. Motivierend für die Betroffenen ist sie allemal.

In der Werner Wicker Klinik in Bad Wildungen ergänzt die VR-Therapie die Rehabilitation von Menschen mit einer Querschnittlähmung.

„Ich habe heute zum dritten Mal mit vierbaren funktionellen Verbesserungen der 3D-Brille gearbeitet und es hat mir unheimlich viel Spaß gemacht“, sagt die 67-jährige Patientin, die sich wegen einer inkompletten Querschnittlähmung zwei Monate in der Werner Wicker Klinik in Bad Wildungen aufhält. Um die Feinmotorik der rechten Hand zu trainieren, pflückte sie etwa Früchte eines imaginären Baumes und legte das Obst in verschiedene Körbchen. Oder sie trommelte mit zwei Schlegeln in den Händen auf einem virtuellen Schlaginstrument, bemüht, dem vorgegebenen, variierenden Rhythmus zu folgen. Für die Patientin ist die virtuelle Therapie eine willkommene Abwechslung und Ergänzung zur Ergotherapie: „Es ist nicht so langweilig, nicht so eintönig man vergisst ein wenig, dass man arbeitet.“

Vielfältige Einsatzmöglichkeiten

Die Einsatzmöglichkeiten von Virtual-Reality(VR)-Therapien in der Medizin sind vielfältig: Sie kann zum Beispiel die Behandlung psychiatrischer oder neurologischer Erkrankungen unterstützen und auch die Rehabilitation nach Operationen. Studien belegen, dass dadurch Schmerzen weniger werden können, ebenso Ängste, Depressionen und negative Emotionen. Der Patient kann sich mit Hilfe einer VR-Brille aus dem teilweise tristen Klinikalltag in eine andere Welt katapultieren, am Strand Volleyball spielen oder in den Bergen Drachen steigen lassen. Virtuell ist alles möglich. Der Patient, in der fiktionalen Welt als Avatar dargestellt, hat das Gefühl, sich in dieser Welt zu bewegen. Tatsächliche Bewegungen, etwa der Hände, werden über eine Kamera aufgenommen und auf den Avatar übertragen.

Der Mehrwert einer Kombination von klassischer Therapie mit VR-Therapie bei der Behandlung von Betroffenen mit einem Schlaganfall ist bereits durch Studien belegt. Auch bei Querschnittlähmung kommt die virtuelle Therapie schon zum Einsatz. „Bei uns in der Klinik ist die VR-Therapie noch nicht in der Routineanwendung“, sagt Dr. Axel Hempfing, Chefarzt am Zentrum für Paraplegiologie der Werner Wicker Klinik in Bad Wildungen. Zusammen mit dem Behandlungsteam aus Ergo-, Physio- und Sporttherapeuten teste man gerade, für welche Indikationen, also bei welchen Lähmungsmustern und Beschwerden, diese neue Technik geeignet sei.

Das Feedback der Patienten sei schon einmal gut, so Hempfing. Er denkt dabei zum Beispiel an eine 22-Jährige, die sich in der Klinik aufhält, seit sie beim Rafting verunglückte. „Patienten mit einem frischen Querschnitt bekommen bei uns zweimal am Tag Physiotherapie“, erklärt Hempfing. Das sei im Vergleich schon viel, dennoch verginge während eines monatelangen Klinikaufenthaltes auch viel ungenutzte Zeit. „Die VR-Therapie ist eine tolle Ergänzung, auch um die Therapiezeit zu erhöhen“, so Hempfing. Allerdings: „Welche tatsächlichen objektivierbaren funktionelle Verbesserungen durch die VR-Therapie erreicht werden können, wissen wir noch nicht.“ Aktuell sei es eine motivationssteigernde Therapie, ein Baustein, der das Behandlungsspektrum erweitere.

Bewegungen anbahnen

Die Werner Wicker Klinik arbeitet wie deutschlandweit inzwischen mehr als 100 Zentren, Ärzte und Therapeuten mit dem VR-System „CUREO“ der Firma Cureosity zusammen, die der Designer Thomas Saur gemeinsam mit seinen Geschäftspartnern Stefan Arand und Marco Faulhammer vor fünf Jahren gründete. Alle Gründer bringen einen familiären Hintergrund mit, der sie in ihrem beruflichen Engagement antreibt. Arand hat einen Sohn mit Down-Syndrom, die Partnerin von Marco Faulhammer ist an Multipler Sklerose erkrankt. Saurs Sohn ist seit einem Autounfall, den er vor mehr als 20 Jahren als Säugling erlitt, querschnittgelähmt. „Für meine Familie und mich war es natürlich wichtig, alles zu versuchen, um eine Rehabilitation mit einem optimalen Verlauf zu gewährleisten“, sagt Saur. Anfangs machten die Therapeuten der Familie wenig Hoffnung. „Querschnittlähmung ist im Prinzip ja nicht heilbar, aber durch eine optimale Rehabilitation kann man einen sehr guten Einfluss auf den Verlauf nehmen“, so Saur. Der gebürtige Freiburger reiste zu Reha-Zentren weltweit, unter anderem nach Osteuropa und China. Er tauschte sich mit anderen Betroffenen aus und schaute sich konventionelle und unkonventionelle Behandlungsansätze an. Sein Fazit: „Es gibt Menschen, die bessere Ergebnisse für sich erzielen als andere mit ähnlicher Ausgangssituation.“

Das optimale Setting

So gäbe es zum Beispiel sehr hohe Querschnitte, die mit der Zeit zu einem hohen Maß an Selbstständigkeit zurückfänden, und andere, bei denen das nicht der Fall sei: Eine Frustration folge auf die nächste. Saur wollte herausfinden, woran das liegen könnte. „Es gibt kein Patentrezept, aber es gibt ein optimales Setting für Patienten, nämlich die Mischung aus intensiver Motivation, Förderung der Vorstellungskraft und Wahrnehmung, um Bewegungen anzubahnen.“ Jede Bewegung beginne im Kopf, beginne mit der Visualisierung der Bewegung. „Selbst wenn keine motorische Antwort möglich ist, ist der Gedanke an die Bewegung der Grundstein für die Initiierung einer Bewegung“, erklärt Saur.

Förderung der Bewegungsfähigkeiten

In China beispielsweise habe man in einer Klinik vollkommen ohne Medikamente, dafür mit traditionellen Bewegungs- und Visualisierungsübungen bei schwerbetroffenen neurologischen und orthopädischen Patienten sehr beeindruckende Ergebnisse erzielt. Voraussetzung für diesen Therapieerfolg seien mehrstündige, intensive Trainings. „Eine sehr starke, von Wiederholungsübungen gekennzeichnete, leider auch sehr personalintensive Zuwendung zum Patienten erzielt einfach bessere Ergebnisse“, berichtet Saur. Die Förderung von Bewegungsfähigkeiten benötige ein ganzheitliches Zusammenspiel, bei dem alle Wahrnehmungskanäle und die Vorstellungskraft des Patienten miteinbezogen würden. Die personellen Ressourcen und auch die Mentalität könnten nicht eins zu eins in unsere westliche Welt übertragen werden, so Saur. Die VR-Therapie jedoch sei eine Ergänzung und kann helfen, die multisensorischen, intensiven Erfahrungen zu vermitteln.

Vervollständigung des beschädigten Körperbildes Untersuchungen mit modernen MRT-Verfahren haben laut Thomas Sauer gezeigt, dass bei einer virtuellen Bewegung die gleichen Hirnareale aktiv sind wie bei einer echten Bewegung. Das Gehirn sei im Prinzip eine Blackbox, die permanent über sensorische Wahrnehmungskanäle gefüttert werde und so eine mentale Repräsentanz des eigenen Körpers im Raum, das Körperbild, entstehen lasse. Nach einem Schlaganfall mit halbseitiger Lähmung oder auch nach einem Querschnitt werde das Körperbild unvollständig.

„Wenn ein Patient nun den einen Arm wirklich bewegt und den anderen virtuell/visuell, wird das Körperbild wieder vollständiger“, erklärt Saur. Der Avatar kann Dinge tun, die der Patient nicht mehr tun kann. Das helfe, das beschädigte Körperbild zu ergänzen und zu trainieren. Die Hoffnung ist, dass sich dank Neuroplastizität dann auch wieder neuronale Verbindungen neu bilden. Die Nervenautobahn vom Gehirn zu den Extremitäten ist bei einem komplett Gelähmten eigentlich vollständig unterbrochen. Dennoch konnte in verschiedenen Studien gezeigt werden, dass im so[1]genannten funktionalen MRT Signale in den entsprechenden Hirnregionen ankamen, wenn etwa die große Zehe einem Schmerzreiz ausgesetzt wird. Bei einigen Patienten sind also noch Verschaltungswege vorhanden, auch wenn diese im Sinne von motorischer oder sensibler Restfunktion nicht klinisch relevant sind. Die Grundidee der VR-Therapie sei, so Axel Hempfing, dass sich diese neuronalen Verknüpfungen auch in der Therapie nutzen lassen. „Aber so weit sind wir definitiv nicht. Es ist eine faszinierende Technik, deren therapeutischer Nutzen in dieser Hinsicht aktuell unklar ist. Wir befinden uns im Anfangsstadium.“

Weiterentwicklung der VR-Therapie

Cureosity entwickelt gerade neue Module für die Anwendung im Bereich der unteren Extremitäten. Die VR-Therapie der Firma kann zurzeit nur eingebunden in eine professionelle medizinische Thera[1]pie genutzt und noch nicht für den Haus[1]gebrauch erworben werden. Im ambulanten Setting ist das System auch schon im Einsatz. „Wir arbeiten langfristig auch an Nachsorgekonzepten und sind aktuell darüber mit den Kostenträgern im Gespräch, damit auch die Menschen zuhause von der VR-Therapie mit CUREO profitieren können“, sagt Thomas Saur. Der 39-jährigen Elif, die nach einer Hirnblutung linksseitig komplett gelähmt war und nun wieder auf dem Weg der Genesung ist, hat die VR-Therapie jedenfalls geholfen: „Das ist mal etwas Neues, statt immer nur Bauklötze hin und her zu bewegen.“ Sie freue sich immer auf die nächste Therapieeinheit, will Erfolg haben, will wieder zurück ins Leben. Elif würde sich wünschen, dass jeder Betroffene die Möglichkeit bekommt, eine VR-Therapie zu nutzen


Der Text von Dr. Ulrike Gebhardt wurde in Ausgabe 4/2023 der Zeitschrift „Der Paraplegiker“ erstveröffentlicht. Die Redaktion von Der-Querschnitt.de bedankt sich herzlich für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung.