Meine Querschnittlähmung und ich: Alles Wabi- Sabi, oder was?
Kürzlich habe ich mein Notizbuch ausgemistet. Recht weit hinten fand ich zwei ominöse Begriffe: „Wabi-Sabi“und „Kintsugi“. Warum nur hatte ich mir das im September vor zwei Jahren notiert? Was bedeuten diese Worte? Und: Was hat Wabi-Sabi mit mir und meiner Querschnittlähmung zu tun?

Was tut man, wenn man nicht so recht weiß, warum man etwas getan hat? Man könnte sich Gedanken über den fortschreitenden Verfall der eigenen intellektuellen Fähigkeiten machen. Oder man schlägt bei Wikipedia nach. Tatsächlich werde ich recht schnell fündig.
Das Online-Lexikon zitiert den deutschen Ostasien-Wissenschaftler Wilhelm Gundert mit einer sehr schönen Erklärung dazu, was Wabi-Sabi ist: Ursprünglich hätte „Wabi“ bedeutet, sich elend zu fühlen, einsam und verloren. Ah! Ich ahne, in welcher Gemütsverfassung ich mich befand, als ich die Worte notierte. Ich habe Wabi-Sabi zwei Tage vor meinem Jahrestag, dem Tag, an dem die Querschnittlähmung in mein Leben kam, abgespeichert.
Nun ist der Unfall schon ein paar Jahre her und ich eigentlich bemüht, mich nicht darauf zu konzentrieren, weshalb es ihm gerade schlecht geht. Eher suche ich nach Auswegen aus der Misere. Ich lese weiter und meine Selbsteinschätzung gibt mir recht.
Schön! Ich bin ein alter Teekessel!
Ich kenne mich halt doch! Denn ich erfahre, dass sich das Elend zur Freude „an der Herbheit des Einsam-Stillen“ wandeln kann. Dass in der Verbindung mit „Sabi“, was alt sein bedeutet, Patina zeigen, über Reife verfügen, eine eigentlich „nicht übersetzbare Begriffseinheit, die den Maßstab der japanischen Kunstbewertung bildet“, entsteht: „Nicht die offenkundige Schönheit ist das Höchste, sondern die verhüllte, nicht der unmittelbare Glanz der Sonne, sondern der gebrochene des Mondes. Der bemooste Fels, das grasbewachsene Strohdach, die knorrige Kiefer, der leicht berostete Teekessel, das und Ähnliches sind die Symbole dieses Schönheitsideals.“ (Für mehr Infos siehe auch externer Link Wabi-Sabi – Wikipedia)
Ja. Das war es, was mir damals gefallen hat und was mir auch heute noch gefällt: Ich bin ein schöner, alter, angerosteter Teekessel. Und jede Macke, jede Narbe (und von denen habe ich querschnittbedingt eine Menge) lässt mich glänzen! Wabi-Sabi veredelt sozusagen die Folgen der Querschnittlähmung.
Die Narben zum Glänzen bringen?
Noch besser gefällt mir allerdings das, was sich hinter „Kintsugi“ verbirgt: Die Betonung des Kaputten, Zerbrochenen und Reparaturbedürftigen. Im Sinne von Kintsugi werden zum Beispiel wertvolle Teeschalen, die zu Bruch gegangen sind, wieder zusammengeklebt.
Der ästhetische Clou dabei: Die Bruchkanten zwischen den Scherben werden mit goldfarbenem Kleber betont, was zu einer ganz neuen, eigenen Schönheit führt. Yes! Das war es, was mich damals angesprochen hatte! Ich habe so viele Bruchkanten und Narben. Verstecken kann ich die nicht, aber vielleicht gelingt es mir ja, sie umzudeuten und zu etwas Neuem, Schönen zu machen.
Ein Freund von mir ist wegen eines Tumors inkomplett gelähmt. Er spielt schon seit längerem mit dem Gedanken, sich überall da, wo Narben sich über seinen Körper ziehen, tätowieren zu lassen. Ob er die OP-Spuren damit betonen will, oder sie hinter den Tätowierungen verschwinden lassen will, ist ihm selbst nicht ganz klar. Vermutlich geht es ihm darum, einen Weg zu finden, mit den Narben und allem, was mit ihnen zusammenhängt, umzugehen. Bisher hat er den Plan noch nicht in die Tat umgesetzt, was auch daran liegt, dass er sich die vielen, vielen Termine im Tattoo-Studio nicht leisten könnte.
Die hohe Kunst der Akzeptanz
Ein wichtiger Aspekt. Meine Frau würde sich wahrscheinlich auch bedanken, wenn ich große Teile des Geldes, das uns zur Verfügung steht, in Körper-Verzierungen investieren würde. Also beschließe ich, sie sanft auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Als door opener schlage ich ihr vor, alle Kratzer und Kerben, die ich mit meinem Rollstuhl unseren Türrahmen und Möbeln zugefügt habe, im Sinne von Kintsugi zu betonen und ästhetisch aufzuwerten, indem ich (oder besser gesagt: meine Frau) sie mit Goldlack fülle.
Meine Frau lacht. Immerhin. Dann streichelt sie mir mütterlich über den Kopf und fragt mich, wie ich mir das konkret vorstelle. Ob ich wirklich in Zukunft in einer Wohnung leben will, deren Wände und Möbel einen Meter hoch durchgängig mit goldener Sockelfarbe bedeckt sind?
Manchmal übertreibt sie.
Und gibt mir die Gelegenheit, mich in einem weiteren japanischen Konzept zu üben: Ukeireru. Die Kunst der Selbstakzeptanz und der Akzeptanz der Umgebung.
Quer Schnittchen ist eine fiktive Figur. Die Kolumnenbeiträge sind inspiriert von Gesprächen der Redaktion mit querschnittgelähmten Menschen. Alltagstipps, eine witzige Begebenheit, eine emotionale Begegnung, eine ärgerliche, aber typische Situation: Was die Leserschaft von Der-Querschnitt.de beschäftigt, greifen die Redakteurinnen gerne an dieser Stelle auf.
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