„Wer kümmert sich um mein querschnittgelähmtes oder behindertes Kind, wenn ich selbst krank werde?“ – Acht Punkte zur Vorbereitung auf den Notfall

„Mein 22-jähriger Sohn hat eine hohe Querschnittlähmung, Tetraplegie auf C4/C5. Ich habe Angst davor, dass ich selbst einmal ins Krankenhaus muss. Denn dann habe ich niemanden, der sich um ihn kümmert. Was kann ich für den Notfall vorbereiten?“ Mit dieser Frage hat sich eine verzweifelte Mutter an Der-Querschnit.de gewandt. Die Redaktion sprach mit Katja Kruse über diese große Herausforderung, mit der viele Eltern behinderter Kinder konfrontiert sind. Kruse ist Leiterin der Abteilung Recht und Sozialpolitik des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. (bvkm).

Für pflegende Eltern oft eine sehr große Herausforderung: Was tun, wenn sie selbst ausfallen?

Die Leserin, die anonym bleiben möchte, ist um die 50 Jahre alt. Seit ihr Sohn vor drei Jahren den Unfall hatte, ist sie nur noch mit geringer Stundenzahl berufstätig, den Rest des Tages ist sie für ihn da. Morgens unterstützt ein Pflegedienst die beiden. „Aber was wäre, wenn ich ins Krankenhaus muss? Ich habe eine chronische Erkrankung, da ist das nicht unwahrscheinlich. Wenn ich nicht da bin, bekäme mein Sohn tagsüber nichts zu essen, seine Katheter würden nicht gewechselt, und er würde nicht umgelagert. Davor habe ich Angst!“

Natürlich gebe es auf dem Papier viele Möglichkeiten, eine derartige Situation zu meistern, zum Beispiel durch Verhinderungspflege oder Kurzzeitpflege. „Aber praktisch? Ich weiß gar nicht, wie ich das vorab regeln soll. Und ich habe Angst, dass wir kein Mitspracherecht haben. Ich will ja nicht, dass mein Sohn wochenlang in irgendeinem Pflegeheim zwischengelagert wird.“

Kein Einzelfall

Die Mutter ist kein Einzelfall. Die Angst, selbst zu erkranken und dann auf die Schnelle niemanden zu finden, der sich um das schwerbehinderte Kind kümmert, belastet viele Eltern. Katja Kruse vom bvkm kennt dieses Dilemma nur zu gut: „Theoretisch gibt es viele Hilfen. Aber es scheitert häufig an der Umsetzung der Ansprüche. Denn es fehlt an adäquaten Angeboten. Wie das im Einzelfall zu behandeln ist, ist sehr abhängig von der konkreten Angebotssituation vor Ort.“

Leider gebe es, so die Erfahrungen vieler Eltern, mit denen sie im Austausch steht, „ein ganz starkes Stadt-Land-Gefälle.“ In den Städten sind Pflegedienste oft vielfältiger und flexibler, „die Städte sind da oft gut aufgestellt, in ländlichen Regionen sieht die Welt häufig anders aus – da nutzen einem oft die besten sozialrechtlichen Ansprüche nichts.“

Keine Patentlösungen

Begrenzt durch lokale Gegebenheiten und soziales/familiäres Umfeld müsse, so Kruse, „jeder seine individuellen Versorgungspfade finden und sich ein Netzwerk aufbauen.“

Sie nennt acht wichtige Punkte zur Vorbereitung:

1. Soziales Notfallnetz aufbauen

        Schon im Vorfeld Verwandte oder Nachbarn ansprechen, die im Fall der Fälle zum Beispiel über die Verhinderungspflege entsprechend finanziert und eingesetzt werden könnten. Gerade bei Kindern und jungen Erwachsenen gibt es seit Anfang 2024 deutliche Verbesserungen: Bei Pflegebedürftigen mit Pflegegrad 4 und 5 (bis 25 Jahre) könne die Verhinderungspflege um den vollen Anspruch der Kurzzeitpflege aufgestockt werden. „Das verschafft den Betroffenen ganz neue Gestaltungsspielräume.“ (Mehr dazu im Beitrag Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz: Mehr Leistungen und Erleichterungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen – Der-Querschnitt.de)

        2. Möglichkeiten für Kurzzeitpflege sondieren

          Kurzzeitpflege ist in speziellen Einrichtungen der Kurzzeitpflege möglich. Für Menschen mit Behinderung gibt es zusätzlich die Möglichkeit, die Kurzzeitpflegeansprüche in Einrichtungen der Eingliederungshilfe wahrzunehmen, um einen Aufenthalt in einem Pflege- oder Altersheim zu vermeiden. In so einer Kurzzeitpflegeeinrichtung ist die Rund-um-die Uhr-Pflege gewährleistet.

          „Leider sind diese Plätze jedoch rar“, erläutert Kruse. „Für viele Eltern ist das wie ein Sechser im Lotto, die Plätze werden oft schon Monate vorher vergeben. Für kurzfristig auftretende Bedarfe einen Platz zu finden, ist sehr schwer.“ Manchmal, zum Beispiel während der Schulferien, gebe es so gut wie keine Plätze, weil gerade berufstätige Eltern oft sonst gar keine Möglichkeit haben, die Schulferien zu meistern. „Es müssten viel mehr Plätze für die Kurzzeitpflege vorhanden sein – und es müsste viel mehr Fachkräfte für die Pflege geben. Der Fachkräftemangel in diesem Bereich ist ein großes Problem.“

          3. Aktiv Pflegedienste kontaktieren

            Es mache auf jeden Fall Sinn, sich einen Überblick über die örtlichen Pflegedienste und ihre Angebote zu verschaffen – und mögliche Szenarien vorab durchsprechen: „Geht das unter Umständen, dass Ihr kurzfristig Zeit habt und jemanden vorbeischicken könnt?“

            4. Über Pflege-Vertrag nachdenken

              Beim Austausch mit Pflegediensten sollte auch eine längere Abwesenheit der Pflegeperson  ein Thema sein: Welcher Pflegedienst scheint geeignet, die Pflege zu übernehmen, wenn die Familie für einige Zeit die häusliche Pflege nicht selbst leisten kann, sondern auf sogenannte Pflegesachleistungen (also die Betreuung durch einen Pflegedienst) wechseln muss?

              5. Kombi-Lösung

                Auch eine Kombination von Pflegegeld (=Betreuung durch die Eltern) und Pflegesachleistung (=Pflegedienst) in Erwägung ziehen. Vorteil dieser Kombi-Lösung: „Man hat den Pflegedienst schon mit im Boot, alle kennen sich. Fällt der pflegende Angehörige aus, gibt es schon ein Stück der Gewöhnung und es kommt nicht Knall auf Fall ein fremder Pflegedienst ins Haus.“

                6. Gegebenenfalls häusliche Krankenpflege verordnen lassen

                  Hat das Kind mit Behinderung neben dem Grundpflegebedarf auch noch einen medizinischen Behandlungspflegebedarf, z.B. weil es regelmäßig Medikamente benötigt oder weil – wie im Ausgangsfall – der Katheter regelmäßig gewechselt werden muss, sollte man sich diese Leistung ärztlich als sogenannte „häusliche Krankenpflege“ verordnen lassen. Der Vorteil: „Diese Leistung wird dann zwar auch vom Pflegedienst erbracht. Sie geht aber nicht zu Lasten des betragsmäßig gedeckelten Topfes der Pflegekasse, sondern wird von der Krankenkasse finanziert.“   

                  7. Hilfsangebote realistisch einschätzen

                    Nach Kruses Erfahrung ist es nicht ratsam, auf andere Eltern in ähnlicher Situation zu bauen und zu hoffen, dass sie im Notfall vielleicht einspringen (können), denn gerade diese Eltern leben ohnehin in einer immensen Belastungssituation. Außerdem sei, betont Kruse, jedes Kind, insbesondere wenn es eine komplexe Behinderung habe, anders , „wer sich da nicht auskennt, kann die individuellen Bedürfnisse nicht so wahrnehmen wie beim eigenen Kind.“

                    8. Austausch in einer Selbsthilfegruppe

                      In einer Selbsthilfegruppe für Eltern behinderter Kinder sitzen die Menschen, denen man nicht groß erklären muss, mit welchen Herausforderungen man konfrontiert ist. Sie kennen das alles selbst. Und sie kennen die konkrete Situation vor Ort und können wertvolle Tipps aus ihrem Alltag geben. Neben dem „Wie hast Du das gemacht?“ haben Selbsthilfegruppen jedoch noch einen weiteren Vorteil, sagt Kruse: „Sie bieten die Möglichkeit, sich seine Sorgen von der Seele zu reden, mit anderen Familien etwas zu unternehmen oder sich gemeinsam für eine bessere Versorgung der Kinder einzusetzen.“

                      Bei der Suche nach der geeigneten Selbsthilfegruppe vor Ort können die Seiten des bvkm Eltern behinderter Kinder und anderen Interessierten helfen, unter anderem durch eine interaktive Suchmaschine (externer Link): Bundesverband für Körper- und mehrfachbehinderte Menschen » Mitgliedsorganisationen (bvkm.de). Daneben bietet der Bundesverband zahlreiche Informationen und hilfreiche Rechtsratgeber für körper- und mehrfachbehinderte Menschen und ihre Angehörigen zum kostenlosen Herunterladen: https://bvkm.de/recht-ratgeber/  


                      Dieser Text wurde mit größter Sorgfalt recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben. Unter keinen Umständen ersetzt er jedoch eine rechtliche oder fachliche Prüfung des Einzelfalls durch eine juristische Fachperson oder Menschen mit Qualifikationen in den entsprechenden Fachbereichen, z.B. Steuerrecht, Verwaltung.

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