Auszeit von Spastik und Schmerzen: Waldbaden im Rollstuhl

Durch seine Arbeit als Physiotherapeut lernt Julian Breuer das „Waldbaden“ kennen, einer Form der therapeutischen Entspannung, bei der man sich ganz auf seine sensorischen Wahrnehmungen konzentriert. Da viele seiner Patienten Menschen mit Querschnittlähmung sind, adaptiert Breuer die Idee dieser spirituellen Form von Auszeit für Menschen im Rollstuhl. Hier berichtet er über seine Erfahrungen bei diesem ersten Yoga-Waldbaden-Retreat.  

Waldbaden unterstützt und stärkt die Sinneswahrnehmungen.

Die Yoga-Lehrerin kniet sich neben einen der Teilnehmer, der auf dem Boden in Rückenlage liegt. Seine Arme liegen ausgestreckt neben seinem Kopf. Die Beine sind mit seitlich abfallenden Knien angestellt, während sich seine nackten Fußsohlen gegenseitig berühren. Sie beginnt mit ausstreichenden Bewegungen auf seiner Stirn, die über den Hinterkopf zum Nacken weiterlaufen. Aus der Musikbox ertönt melancholische Musik. Die weibliche Stimme singt: „The power of love is here now. The power of now is here now.“

Momente der Ruhe und des Friedens

Entspannungsübungen waren wichtiger Bestandteil des Retreats.

Trotz geschlossener Augen strahlt sein Gesicht Glückseligkeit aus. Neben ihm liegen, ähnlich entspannt, sieben weitere Menschen. Dieser Moment ist geprägt von Ruhe und Frieden. Nur die 8 Rollstühle im Raum deuten darauf hin, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Mobilitätseinschränkung haben könnten.

Ich bekomme Gänsehaut. Die Arbeit und Mühe der letzten Monate haben sich gelohnt. 

Als Physiotherapeut arbeite ich in einer ambulanten neurologischen Reha-Einrichtung in Köln. Ein Schwerpunkt ist die Therapie mit querschnittgelähmten Patienten. Im Rahmen dessen wurde ich vor circa einem Jahr zu einem Yoga-Waldbaden-Retreat eingeladen. Obwohl ich mit großer Sicherheit zu den unbeweglichsten Therapeuten in Deutschland zähle, habe ich ohne Vorkenntnisse und mit großer Freude zugesagt.

Enorme Reizwahrnehmung

Nach schweißtreibenden, aber wohltuenden Yoga-Bewegungen saß ich im Wald auf einem umgestürzten Baumstamm. Geprägt von den Inhalten des Tages, merkte ich wie entspannt ich war. Körperlich, wie mental. Meine Körperwahrnehmung verschiedener Reize war enorm. Als ich mich mit der Wahrnehmung des weichen Waldbodens unter meinen Füßen beschäftigte, musste ich auf einmal an meine Patienten mit Querschnittlähmung denken. Wie mag so ein Tag Menschen beeinflussen, die die Kontrolle über einen Teil ihres Körpers verloren haben?

In den folgenden Wochen besprachen wir in unserer Einrichtung diese Gedanken, bis wir uns letzten Endes entschieden haben eine ähnliche Veranstaltung durchzuführen – für Menschen mit Querschnittlähmung.

Von unserer Idee konnten wir leicht eine neurologisch erfahrene Yoga-Lehrerin und einen finnischen Wald-Coach überzeugen. Zudem fanden wir ein schönes Tagungshaus am Waldrand, wo wir die Veranstaltung durchführen können. Auch eine mobile Rollstuhl-Toilette wurde bestellt.

Keine Wertung der eigenen Leistung

Manche Übungen wurden sitzend im Rollstuhl, andere auf dem Boden ausgeführt.

An einem sonnigen Herbsttag im September ist es dann so weit. Mit 8 Teilnehmenden starten wir unser erstes Yoga-Waldbaden-Retreat für Menschen mit Querschnittlähmung.

Yoga-Lehrerin Birgit begrüßt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Wintergarten des Hauses zur ersten Yoga-Einheit. „Adaptives Yoga lehrt uns, dass es nicht darum geht, einen perfekten Flow zu praktizieren, sondern darum, unseren Körper und Geist in Einklang zu bringen, ganz gleich, welche Hindernisse uns im Weg stehen.“ Dieser Raum sei wertfrei, man werte nicht über andere oder seine persönliche Leistung. Im Vordergrund stehe das Sein.

Die erste Einheit findet sitzend im Rollstuhl statt. Im Vordergrund stehen aktivierende Bewegungen kombiniert mit verschiedenen Atemtechniken. Ich bin überrascht, wie kreativ und abwechslungsreich die Bewegungsabfolgen sind. 

Bei einer Übung wird beispielsweise ein Fuß auf einem Yoga-Klotz abgestellt, während der diagonale Arm mit der Einatmung zur Decke gestreckt wird. Eine abgewandelte Ein-Bein-Stand-Variante, wie mir später erklärt wird.

„Mit jedem Atemzug lässt die Spastik nach.“

Sümeyra (28) sitzt nach einer Tumor-OP an der Wirbelsäule seit 4 Jahren im Rollstuhl. Durch langes Sitzen baut sich im Bereich der hinteren Oberschenkelmuskulatur häufig eine stärkere schmerzende Spastik auf. Sie berichtet nach der ersten Einheit: „Es war faszinierend zu erleben, wie die Spastik mit jeder bewussten Atmung nachließ. Jetzt kann ich entspannter in den Wald fahren.“

Nach einer kurzen Stärkung geht es mit dem finnischen Wald-Coach Jukka in den Wald.

Primär geht es in dieser Einheit um Wahrnehmungsübungen. Bei der ersten Übung sollen die Teilnehmer aufzählen, welche Reize sie wahrnehmen: akustisch, taktil und visuell. Im Anschluss berichten alle aus der Gruppe, dass sie im Verlauf konzentrierter im Kopf wurden und so mehr Reize wahrnehmen konnten.

„Ich war sehr stolz auf mich.“

Ray (41) sitzt seit 3,5 Jahren nach einem Unfall im Rollstuhl und erzählt: „Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so klar im Kopf war. Ich konnte diesen Moment nutzen, um mich mit mir selbst auseinander zu setzen. Was ist in den vergangenen Jahren seit dem Unfall alles passiert? Was läuft gut und was läuft schlecht? Ich war sehr stolz auf mich.“

So geht Retreat: Blaubeer-Tee aus finnischen Holztassen.

Nach einer Runde Blaubeer-Tee aus finnischen Holztassen geht es zurück ins Tagungshaus zur zweiten Yoga-Einheit.

Hier liegt der Fokus auf Bewusstseinsarbeit und Regeneration. Eine eher passive Praxis, bei der man länger in einer Haltung verweilt. Diese Einheit findet bewusst auf dem Boden statt – aufgrund des Transfers ein oft heikles Thema für Menschen, die einen Rollstuhl nutzen. In dieser Gruppe kommen alle selbstständig, ohne assistierende Hände und sicher auf den Boden. Im Vergleich zur ersten Einheit sind die Ausführungen nun aber individueller.

„Locker lassen“

Hin und wieder unterbricht einschießende Spastik die Bewegungsabläufe. Sümeyra: „Es war witzig zu beobachten, wie wir alle an unsere individuellen Grenzen stießen. Aber das war völlig in Ordnung, denn in diesem Raum wurde nicht bewertet. Das zeigte mir, wie wichtig es ist, die Zügel der Strenge gegenüber sich selbst etwas lockerer zu lassen.“

Aus therapeutischer Sicht bin ich fasziniert, wie gut und selbstständig die Bewegungsabläufe funktionieren. Die dehnenden Ausgangsstellungen wirken bequem und entspannend, so dass ich mich am liebsten dazu legen möchte. Ray: „Ich habe gemerkt, wie die Bewegungen immer harmonischer wurden. Die Spastik war zwar noch in meinem Körper, aber ich hab´ die Willkür über die Unwillkür legen können.“

Die Einheit endet mit massierenden Ausstreichungen Birgits an den Köpfen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, während melancholische Musik ertönt. Beim Rücktransfer in den Rollstuhl benötigen zwei Teilnehmer ein wenig Unterstützung, während die übrigen Teilnehmer sie anfeuern.

Gegensatz zu Therapie-Alltag

Bei einem abschließenden gemeinsamen Abendessen sind die Erlebnisse des Tages Thema. Ray: „Bei unserem Therapie-Alltag geht es immer um Intensität und Frequenz. Dieser Gegensatz heute war total wertvoll und hat mir gezeigt, wie wichtig diese Elemente körperlich und mental sind.“

Viele waren nach Eintritt der Querschnittlähmung heute das erste Mal im Wald und wollen dies nun öfter in ihren Alltag integrieren. Auch über eine gemeinsame Yoga-Gruppe, die sich regelmäßig trifft, wird philosophiert. Als Therapeut erlebe ich täglich, mit wie vielen Hindernissen Menschen mit Querschnittlähmung und anderen Behinderungen im Alltag konfrontiert werden – körperlich, im Gesundheitssystem oder in unserer Gesellschaft. Es ist schön zu sehen, dass sie diese für den heutigen Tag ausblenden konnten. 


Text und Yoga-Bilder stammen von Julian Breuer, der als Physiotherapeut in einer ambulanten neurologischen Reha-Einrichtung (siehe externer Link: NiB) arbeitet. Die Fotos vom Waldbaden stammen von Jukka Jokela von (externer Link) Waldfulness.

Die Redaktion von Der-Querschnitt.de bedankt sich herzlich für die Zustimmung zur Veröffentlichung.