Inkomplette Querschnittlähmung: „Wahnsinnig viele Vorurteile!“ 

Menschen mit Querschnittlähmung sitzen im Rollstuhl. So denken viele: Die Passantin auf dem Parkplatz, der Mann am Nebentisch, aber auch Ärztinnen und Therapeuten. Für Sabrina Dietrich ein großes Problem. Als inkomplett Gelähmte ist sie zwar mit vielen querschnittspezifischen Herausforderungen konfrontiert – aber das sieht man ihr nicht an. Und so stößt sie immer wieder auf Unverständnis und gesellschaftliche und/oder bürokratische Hürden.

Jammern nutzt nix: Sabrina Dietrich ist aktiv geworden, unter anderem als Gründungsmitglied im „Arbeitskreis Fußgänger“

Die FGQ-Peer will das ändern. Mit anderen inkomplett Gelähmten hat sie bei der FGQ den Arbeitskreis „Fußgänger mit Querschnittlähmung“ gegründet (Kontakt: fussgaenger@fgq-beratung.de). Zusammen wollen sie die Öffentlichkeit („Damit meine ich die Politik, aber auch andere – komplett – querschnittgelähmte Menschen“) für die komplexen Schwierigkeiten sensibilisieren, mit denen sie als inkomplett Gelähmte Tag für Tag konfrontiert sind: „Der inkomplette Querschnitt ist etwas ganz anderes als das, was man klassischerweise unter einer Querschnittlähmung versteht. Uns werden wahnsinnig viele Vorurteile entgegengebracht, ständig hören wir Sätze wie ,Reg dich doch nicht auf, dir geht es doch gut!´. Unsere Probleme kann nur nachvollziehen, wer im selben Boot sitzt“, sagt Dietrich.

Nicht jeder glaubt Dietrich, dass sie querschnittgelähmt ist

Neuer Arbeitskreis „Fußgänger“

Der Arbeitskreis will auch Anlaufstelle sein für Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie selbst: „Seit ich mit meinen Schwierigkeiten vor einem halben Jahr an die Öffentlichkeit gegangen bin, melden sich jede Woche ein bis zwei Betroffene mit der Bitte um ein Gespräch. Da besteht also ein Riesen-Bedarf.“ Häufig empfinden es die Kontaktsuchenden bereits als große Erleichterung, wenn sie merken, dass sie mit ihren Problemen kein Einzelfall sind.

Die Bemerkung, „man merkt ja gar nicht, dass Sie behindert sind!“, sei ein Klassiker, den Menschen mit inkompletter Lähmung oft hören müssen. Oder auch „Wozu brauchen Sie denn Hilfe?“, erzählt Dietrich. Und dann muss sie erklären, erklären, erklären und kämpfen, kämpfen, kämpfen. „Es fängt schon damit an, dass ich Ärzte immer wieder daran erinnern muss, dass ich querschnittgelähmt bin. Sonst vergessen sie bei ihrer Diagnose diese Tatsache und alles, was damit zusammenhängt“.

Dietrich kann von vielen Begegnungen der unangenehmen Art berichten, die Liste der Fehleinschätzungen ist lang. Weil sie zum Beispiel Dank konsequenten Trainings kurze Strecken zwar frei, aber eben nur langsam, schwankend und unsicher gehen kann, glauben Passanten manchmal, sie sei betrunken: „Das belastet mich sehr.“  Krücken will sie dennoch nach Möglichkeit nicht nutzen, denn „die habe ich mir bei einem Sturz regelrecht in den Hals gerammt. Deshalb bin ich ohne Hilfsmittel unterwegs, und das ist sehr anstrengend.“ Ein Rollstuhl wiederum sei keine Alternative: „Durch Stürze und das permanente Abstützen sind meine Schultern kaputt. Ein manueller Rollstuhl käme gar nicht mehr in Frage, ich müsste direkt in einen E-Rolli wechseln. Aber wenn ich dieses Thema anspreche, heißt es: Frau Dietrich, ich sehe Sie nicht im Rollstuhl.“

Inkomplette Querschnittlähmung: die unsichtbare Behinderung

Überhaupt: Das Nicht-Sehen! Bei der Auseinandersetzung mit Behörden und Kostenträgern muss sie fast immer langwierig begründen, weshalb der höhenverstellbare Schreibtisch bei ihr keine Sache der Ergonomie (= Zuständigkeit des Arbeitgebers) ist, sondern ein Hilfsmittel, um ihre Behinderung auszugleichen (= Zuständigkeit der Rentenversicherung). Weshalb bekommen Menschen mit anderen Behinderungen ein Tribike finanziert, die mit ihren Gleichgewichtsstörungen aber nicht? Warum wird beim Grad der Behinderung ihre Magen-Darm-Lähmung mit angerechnet, aber gravierende Begleiterscheinungen – wie die Gefahr einer autonomen Dysreflexie – tauchen im Arztbrief nicht auf? Weshalb bekommt sie nicht die Unterstützung, die sie mit GdB 60 und Merkzeichen G bräuchte? Liegt es daran, dass sie gehen kann? „Da bin ich in einem permanenten Rechtfertigungszwang. Ich muss ständig für meine Bedürfnisse kämpfen. Manchmal stehe ich so unter Druck, dass ich gar nicht merke, wenn mich jemand unterstützen will.“

Verständnislosigkeit zermürbt. Dazu kommt die ständige Angst, dass sie nachts wieder Streckspastiken haben wird und die Sorge, wie lange sie am nächsten Morgen brauchen wird, um ihren Körper aufzurichten: „Oft komme ich ewig nicht in die Gerade. Ich muss mich wie ein verrostetes Taschenmesser mühselig aufklappen. Außerdem muss ich mir bei jedem Schritt klarmachen, dass der Boden fest ist und nicht aus Watte. Es dauert mindestens eine halbe Stunde, bis ich einigermaßen sicher unterwegs bin.“

Berufliche Teilhabe mit Einschränkungen

Beeinträchtigungen, von denen niemand außer sie selbst etwas mitbekommt. Da ihre Behinderung unsichtbar ist, wird zudem ihr Verhalten häufig falsch eingeschätzt: „Für mich sind Dinge zu anstrengend, die für andere nicht anstrengend sind. Da gilt man schnell als faul, weil man nicht Vollzeit arbeitet. Oder sogar als Parasitin, die allen auf der Tasche liegt, falls man staatliche Leistungen bezieht.  Dabei würde ich das ja liebend gerne, aber mein Körper macht das nicht mit.“

Die Kluft zwischen dem Augenscheinlichem und dem, was tatsächlich möglich ist, belastet nach Dietrichs Erfahrung viele Menschen mit inkompletter Querschnittlähmung. Als Peer rät sie Betroffenen: „Man kann alles regeln, aber man muss es ansprechen“. Ihr Tipp: „Reden, aber auch zuhören. Was braucht der Arbeitgeber, was brauche ich? Das ist eine Kunst, wie Mediation am laufenden Band.“ Dietrich selbst arbeitet als Rechtsanwaltsfachangestellte. Die Arbeit in der Kanzlei fordert sie, ihre Grenzen werden aber auch respektiert: „Wenn die große Papierlieferung kommt, räumt die halt meine Chefin weg. Dieses Glück hat nicht jeder inkomplett Gelähmte.“

„Wir wollen am großen Ganzen etwas ändern!“

Deshalb ist ihr der neue Arbeitskreis auch so wichtig: „Wir wollen den Leuten zeigen: Hey! Hier habt ihr eine Anlaufstelle! Und wir wollen am großen Ganzen etwas ändern, Druck auf den Gesetzgeber ausüben. Vielleicht kommen wir irgendwann dahin, dass inkomplette Querschnittlähmung ähnlich behandelt wird wie Parkinson oder MS und es auch für uns Ausnahmeregelungen zum Beispiel bei der Hilfsmittelverschreibung geben wird.“


Der Text wurden in Ausgabe 4/2022 des „PARAplegiker“, der Mitgliederzeitschrift der FGQ, erstveröffentlicht. Die Redaktion von Der-Querschnitt.de bedankt sich bei Protagonistin und FGQ herzlich für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung.


Die Beiträge, die in der Kategorie „Erfahrungen“ veröffentlicht werden, schildern ganz persönliche Strategien, Tipps und Erlebnisse von Menschen mit Querschnittlähmung. Sie stellen keine Empfehlung der Redaktion dar und spiegeln nicht die Meinung der Redaktion wider. Wer auch gerne auf Der-Querschnitt.de Erfahrungen teilen möchte, wendet sich bitte an die Redaktion. Siehe: Ihre Erfahrungen helfen anderen.


Am 15.05.2023 kommentierte unsere Leserin Esther W.:

„Hallo, ich bin 52 Jahre alt, wohne in Mittelhessen, Nähe Wetzlar und hatte 2014 im Januar, mit 43 Jahren, einen Rückenmarksinfarkt. Danach saß ich auch längere Zeit im Rollstuhl und war wochenlang in Reha.

Erst im Mai 2014, nach erneuter Verschlimmerung (konnte bis dahin schon mal stehen und ganz wenige Schritte in der Wohnung gehen) wurde ein BSV in der unteren BWS als vermeintliche Ursache angesehen. Ganz gesichert war diese Diagnose nicht, und wurde auch von manchen Ärzten angezweifelt.

Jedenfalls wurde ich Ende Mai 2014 an der BWS operiert und TH10 – TH12 wurde versteift. Erneute Reha folgte. Ich baute wieder Muskeln auf und (mit Hilfe der Beinspastik) konnte ich, Wochen später, wieder stehen und etwas gehen.

Aufgrund der angezweifelten Diagnose, ist meine eigentliche Krankengeschichte sehr lang und ausführlich. Es folgten unendlich viele Klinikaufenthalte und Diagnose Ersuchen. Auch in X (Ort der Redaktion bekannt) und an verschiedenen Zentren für seltene, unerkannte Erkrankungen.

Letztendlich bleibt immer der Rückenmarksinfarkt, bei mir Arteriea – spinalis – anterior – Syndrom übrig.

Nach der OP gab es auch keine vollständigen Lähmungserscheinungen mehr, die mich komplett in den Rollstuhl zurückbrachten.

Was geblieben ist, ist die inkomplette Querschnittlähmung ab LWS Bereich/ Hüftbereich.

Wöchentliche Therapien von 2x KG, 1x Ergo und 1/2 Stunde Hippo Therapie mache ich seit Jahren. Der Rollstuhl ist nur ganz selten im Einsatz, meistens dort, wenn ich irgendwo länger stehen muss, ohne Sitzgelegenheiten. Oder an Veranstaltungen, wo nur Bierzelt-Garnituren ohne Rückenlehne stehen. Da rutsche ich weg, habe Schmerzen und keinen Halt.

Eine sehr große Erleichterung hat mir das Gerät Innostep Fussheber gebracht, welches durch elektronische Schläge die entsprechenden Nerven am Bein beim Auftreten auf den Boden, den Fuß auch wieder anheben läßt. Dies verbessert leicht das Gangbild und verringert die Sturzgefahr.

Natürlich ein langer Kampf mit der der KK, wie immer. (3x Widerspruch eingelegt, bis es genehmigt wurde)

In diesem Artikel über die Vorurteile und Verständnislosigkeit hinsichtlich Querschnittlähmung finde ich mich zu 100% wieder. Auch die körperlichen Befindlichkeiten stimmen überein.

Ich bin Krankenschwester und seit Tag X in der BU und VEu Rentnerin.

Würde mich sehr über einen Austausch mit Gleichgesinnten freuen.

War bisher noch keine Gelegenheit

Ganz viele liebe Grüße

Esther