Leben mit Behinderung: Schutz vor Gewalt und Hass in der analogen und digitalen Welt

In der analogen, echten Welt, aber auch im Netz, sind gerade Menschen, die einer vulnerablen Gruppe angehören, häufig vorurteilsgeleiteter Abwertung und Feindseligkeit ausgesetzt. Diese These vertreten die Polizeibeamtin Bettina Rommelfanger und der Anwalt Jochen Link in einem Artikel und nennen Möglichkeiten, wie für Menschen mit Behinderung Schutz vor Hass und Gewalt möglich ist.

Viele Menschen sehen sich aus diskriminierenden Beweggründen Gewalt und Anfeindungen ausgesetzt

Zunächst skizzieren sie ein Szenario, das die Opferschutz-Organisation „Der Weisse Ring“ veröffentlicht hatte: „Der 29-jährige Hakim A. sitzt seit einem Unfall im Rollstuhl. An einer Bushaltestelle wartend, wird er von einer Gruppe junger Männer umringt und aufgrund seiner Gehbehinderung sowie seiner Hautfarbe beschimpft und beleidigt. Die Täter treten gegen seinen Rollstuhl, bis dieser umfällt. Am Boden liegend wird Hakim A. beraubt und hilflos liegengelassen. Umstehende Passanten helfen ihm nach dem Überfall, ebenso wie die herbeigerufene Polizei und anschließend der Weiße Ring als Institution, die Kriminalitätsopfern zur Seite steht. Trotzdem bleibt bei Hakim A. seitdem die Angst, wenn er größeren Personengruppen begegnet.“

Welcher Schutz ist möglich?

Danach widmen die beiden Experten sich der Frage, wie mit Behinderung Schutz vor Hass und Gewalt funktionieren kann und welche Prävention gegen Gewalt- und Hassstraftaten in der analogen und digitalen Welt möglich ist. Ihr Text wird im Folgenden wörtlich wiedergegeben.

Natürlich kann jeder Mensch Opfer einer Straftat werden, nicht nur in der analogen, sondern auch in der digitalen Welt. In den eigenen vier Wänden geschieht dies übrigens weitaus häufiger als im öffentlichen Raum. Besonders gefährdet sind Menschen, die einer vulnerablen Gruppe angehören, sei es aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Herkunft, ihrer Religion oder auch wegen eines körperlichen oder geistigen Handicaps.

Zurecht schärft der Gesetzgeber bei solchen oftmals vorurteilsgeleiteten und menschenverachtenden Gewalt- und Hassstraftaten die Strafandrohung. Mit einer Bestrafung der Täter ist es jedoch häufig nicht getan. Wer betroffen ist, findet sich plötzlich in einer Situation wieder, auf die man oftmals nicht vorbereitet ist. Neben den materiellen Folgen – etwa nach einem Raub – sind die Beschädigungen an Körper und Seele oftmals gravierender und wird das subjektive Sicherheitsgefühl getrübt. Das erlebte Unrecht löst immer wieder starke körperliche und emotionale Reaktionen aus und führt zu Überlastungen und traumatischen Zuständen. Gerade Menschen mit Behinderung erleben das Gefühl der Hilflosigkeit nach einer Straftat weitaus intensiver und sind anfälliger für traumatische Belastungsstörungen.

Prävention analoger Gewalt

Umso wichtiger ist es, vorbereitet und präventiv tätig zu sein, damit es erst gar nicht zu einer Straftat kommt. Es gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen und ist zentraler Bestandteil unserer Lebensqualität: ein Leben in Sicherheit, frei von Gewalt und frei von durch andere Menschen verursachte Traumatisierungen.

Wie kann ich Gewaltdelikten im öffentlichen Raum vorbeugen?

  1. Nehmen Sie Ihre Umgebung aufmerksam wahr. Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl. Es warnt Sie instinktiv vor bedrohlichen Situationen.
  2. Halten Sie Abstand, entfernen Sie sich so früh wie möglich von bedrohlichen Situationen. Begeben Sie sich an sichere Orte, wechseln Sie die Straßenseite oder suchen Sie einen belebten Ort, etwa ein Restaurant auf.
  3. Siezen Sie die provozierende Person. Damit signalisieren Sie Außenstehenden, dass es sich um keine private Streitigkeit handelt.
  4. Vermeiden Sie verbale Provokation und körperliche Konfrontation.
  5. Sprechen Sie unbeteiligte Personen direkt an und fordern Sie Hilfe ein.
  6. Rufen Sie in einer Notsituation die Polizei über 110 und erstatten Sie Strafanzeige.

Hilfreich ist es, sich gedanklich bereits vorab mit solchen Situationen auseinanderzusetzen, um diese Handlungsoptionen abrufbar zu haben. Allein ein selbstbewusstes Auftreten, das Handlungssicherheit ausstrahlt, kann bereits abschreckend wirken, da die Täterinnen und Täter zumeist wehrlose Opfer suchen.

Zudem sind solche Verhaltenstipps einprägsamer als etwa Selbstverteidigungsgriffe, die einmal in einem Kurs angewendet, schnell wieder vergessen sind. Abgeraten wird grundsätzlich von einer Bewaffnung, die nur eine trügerische Sicherheit vermittelt. Waffen erhöhen unbewusst die eigene Risikobereitschaft, können abgenommen und gegen das Opfer selbst gerichtet werden. Waffen tragen zur Eskalation bei.

Prävention digitaler Gewalt

Hatespeech und Hatecrime beschreiben Kriminalitätsphänomene, die die Schattenseiten der Digitalisierung sichtbar machen. Es ist nicht einmal mehr erforderlich, seinem Opfer in die Augen zu schauen – ein Klick auf „Senden“ genügt, um unangemessene Kommentare in das World Wide Web zu befördern.

Verwendet man dabei noch einen anonymen oder gefakten Account, wägt sich der Hater und die Haterin in Sicherheit. Der Dynamik von Chatgruppen im digitalen Raum wird eine katalytische Wirkung auf Hass und Hetze zugeschrieben. Zudem kompensieren Menschen, die sich im Netz abwertend äußern, oftmals eine persönlich empfundene Unwirksamkeit in der analogen Welt. Sie finden Zuspruch in Chaträumen und bewegen sich zunehmend radikaler in einer durch Algorithmen abgeschlossenen Filterblase.

Auch im Netz sind gerade Menschen, die einer vulnerablen Gruppe angehören, besonders häufig vorurteilsgeleiteter Abwertung und Feindseligkeit ausgesetzt. Ziel der Haterinnen und Hater ist es, durch wiederholende verletzende Äußerungen eine Teilhabe des Opfers am Diskurs zu verhindern und es zum „Rückzug“ zu bewegen. Hier setzt die Gefahr für unsere Demokratie an, wenn Menschen in eine Schweigespirale kommen, sich nicht mehr frei äußern und ihre Meinung aus Angst vor einem Shitstorm zurückhalten.

Wie begegne ich Hass und Hetze im Netz?

  1. Jede und jeder kann im Internet Ziel von Hatespeech werden. Seien Sie aufmerksam mit der Veröffentlichung von persönlichen Daten und nutzen Sie Möglichkeiten in den Einstellungen der jeweiligen Foren, um ihre Privatsphäre zu schützen.
  2. Niemand, der Hass im Netz erfährt, ist damit allein. Wenden Sie sich an Vertrauenspersonen in ihrem Umfeld, melden Sie Hasskommentare an den Provider. Die Initiative Toleranz im Netz informiert über passende Meldestellen und Hilfsangebote.
  3. Wer Hass erfährt, ist nicht schuld! Jeder kann gegen falsche Behauptungen, Beleidigungen und Bedrohungen im Netz vorgehen. Im Internet gelten dieselben Gesetze und Regeln wie in der analogen Welt.
  4. Anzeigen lohnt sich! Auch bei anonymen Accounts hat die Polizei die Möglichkeit, mit der Sicherung des Hasskommentars als Screenshot, der Benennung der URL des Absenders auf der betreffenden Plattform und des Zeitpunkts des Sendens in fast 60 Prozent der angezeigten Fälle einen Täter oder eine Täterin zu ermitteln.
  5. Reagieren Sie besonnen, aber bestimmt. Bleiben Sie sachlich. Entlarven Sie Fake-Nachrichten, halten Sie dagegen, ohne sich selbst strafbar zu machen. Springen Sie anderen Betroffenen zivilcouragiert bei.

Ob in der analogen oder der digitalen Welt: Ein gesundes Gefahrenbewusstsein und ein verantwortungsvoller und aufgeklärter Umgang mit möglichen Risiken verbessern unser aller Sicherheitsgefühl. Sich der eigenen Situation, der Wirkung und auch der eigenen Möglichkeiten zur Gestaltung der Umwelt und der Begegnungen im digitalen und analogen Leben bewusst zu sein, ist der Schlüssel zu mehr Sicherheit im Alltag.

Wichtige Links:

  • Polizei-Beratung: Informationen und Hinweise der Polizei zum Opferschutz
  • Weisser-Ring: Hilfe für Betroffene, Engagement für Kriminalprävention. Opfer-Telefon 116 006
  • Initiative Toleranz im Netz:  Hilfe bei Übergriffen im digitalen Raum
  • HateAid: Berät Betroffene digitaler Gewalt und bietet Prozesskostenfinanzierung an
  • Hilfe-Info: Informiert über Opferschutz und örtliche Opferberatungsstellen

Zu den Autoren:

Jochen Link ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Mediator. Mit einem Tätigkeitsschwerpunkt im Behindertenrecht berät und vertritt er Betroffene. Ehrenamtlich betreibt er als Fußgänger Rollstuhlsport bei KoRolli e.V. in Konstanz. Zudem ist Jochen Link Mitglied im Behindertenbeirat der Stadt Konstanz.

Bettina Rommelfanger ist Polizeibeamtin und leitete u.a. die Landesprävention im Landeskriminalamt Baden-Württemberg. Seit zwei Jahren leitet sie die Task Force gegen Hass und Hetze und gründete die Initiative Toleranz im Netz, die auf gleichnamiger Web – site Betroffene von Hass im Netz unterstützt.


Der Text wurde in Ausgabe 1/2024 der Zeitschrift „Der Paraplegiker“, dem Mitgliedermagazin der Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland e.V., erstveröffentlicht. Die Redaktion von Der-Querschnitt.de bedankt sich herzlich für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung.


Dieser Text wurde mit größter Sorgfalt recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben. Unter keinen Umständen ersetzt er jedoch eine rechtliche oder fachliche Prüfung des Einzelfalls durch eine juristische Fachperson oder Menschen mit Qualifikationen in den entsprechenden Fachbereichen, z.B. Steuerrecht, Verwaltung. Der-Querschnitt.de führt keine Rechtsberatung durch. Ob und in welchem Umfang private Krankenkassen die Kosten für Hilfsmittel, Therapien o.ä. übernehmen, ist individuell in der jeweiligen Police geregelt. Allgemeingültige Aussagen können daher nicht getroffen werden.