Leben mit Querschnittlähmung: Selbstwertgefühl – im Spiegel der Gesellschaft

Die eigene Behinderung zu akzeptieren und sich selbst zu mögen, ist für Betroffene oft eine Herausforderung. Täglich werden wir mit Bildern überflutet, die Perfektion und ein bestimmtes Ideal suggerieren. Doch was geschieht, wenn ich mich in diesen perfekten Bildern nicht wiedererkenne? Wie erleben Menschen mit einer Querschnittlähmung eine Gesellschaft, in der Erfolg, Schönheit, Reichtum und Geld im Vordergrund zu stehen scheinen? Zwei Mitglieder der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) teilen ihre Gedanken.

Caroline Bossy: „Zufriedenheit finden, in dem was ist.“

Zwei Erwachsene aus der Westschweiz, die von Geburt an mit einer Behinderung leben, haben sich bereit erklärt, über das Thema Selbstwert nachzudenken und ihre Empfindungen mit uns zu teilen. Wir bedanken uns ganz herzlich bei den beiden SPV-Mitgliedern für ihre Offenheit und die Zeit, die sie sich für ihre Texte genommen haben.

Caroline Bossy, 30 Jahre: Den Augenblick genießen

Ich spürte früh die elterliche Aufforderung, erfolgreich sein zu müssen, immer besser zu werden und so zu sein wie die anderen – ansonsten würde ich nicht geliebt werden. Mein Handicap und die damit verbundenen Grenzen wurden gar nicht erst berücksichtigt. Ich verrenke mich jeden Tag, um mich der Gesellschaft anzupassen, damit alles rund läuft, und muss dabei ziemlich Federn lassen.

Viele sagen: „Wenn du etwas willst, dann kannst du es erreichen.“ Aber das ist nicht so: Ich kann nicht gehen! Ich schaffe es nicht! Was nun? Jedes Mal, wenn wir etwas nicht bekommen oder erreichen können, verweigern und beschweren wir uns. Macht uns das glücklich? Wir können nicht einen Marathon laufen wie andere, es ist schlicht undenkbar. Die mentale und körperliche Energie, die wir aufwenden müssen, um unser Anderssein auszugleichen oder zumindest zu verringern, geht verloren. Also ziehe ich es vor, mich damit abzufinden und mein Bestes zu geben.

Handeln statt reagieren

Loslassen. Die Situation annehmen. Akzeptieren, dass man nicht alles kontrollieren kann, was man kontrollieren möchte. Das heißt aber nicht, dass man aufgibt. Im Gegenteil! Man muss Resilienz entwickeln. Was kann ich ändern? Was nicht?

Ich habe eine Beeinträchtigung. Das bedeutet zwangsläufig, dass ich auch eine Menge Schwierigkeiten habe. Wenn man einen einzigartigen und wertvollen Gegenstand verliert, ist er weg, das ist Fakt. Und wenn wir erkranken oder einen Unfall erleiden, müssen wir irgendwie damit leben. Das ist zwar schwierig, gehört aber zum Leben.

Die Wahrnehmung ändern

Wir werden mit Bildern überhäuft, die Schönheit und Perfektion anpreisen. Aber das alles ist nur Schein und lenkt von unseren eigentlichen Werten ab. Was ist Schönheit? Was ist Erfolg? Es sind Begriffe, die sich mit Oberflächlichkeiten befassen. Es sind Worte, die in keiner Weise unsere wahren Werte beschreiben und doch wichtig sind für viele Leute. Bin ich ein guter Mensch, wenn ich nicht 4.000 Franken pro Monat verdiene? Kann ich Wertschätzung erhalten, wenn ich nicht oder nicht mehr so aussehe wie Menschen, die in den Medien als Idealbild gelten?

Ich glaube, dass meine Welt perfekt und schön ist, wie sie ist. Ich ziehe es vor, in meiner eigenen Realität zu leben, statt blindlings irgendwelchen Diktaten zu folgen. Es ist zwar schwierig, sich gut zu fühlen, wenn die von anderen diktierten Glücksvorstellungen nicht erreicht werden. Aber diese Faktoren sind falsches Glück. Wahres Glück entsteht durch den Augenblick und nicht durch Errungenschaften. Jede und jeder besitzt die Fähigkeit, im Hier und Jetzt das Glück zu sehen, das da ist. Das Glück, da zu sein. Es geht darum, innezuhalten, das Glück zu erkennen und es zu genießen.

Wir sind alle gleich

Wenn man mit einer körperlichen Behinderung lebt, kann man zum eigenen Wohl einzig den Zustand des Bewusstseins ändern. Wir sind aufgefordert, das Gewöhnliche, das „Normale“, die Perfektion und den Erfolg loszulassen. Es geht nicht darum, mit anderen zu konkurrieren, sondern vielmehr zu beobachten, dass wir gar nicht so anders sind als die anderen. Dass jeder Mensch einzigartig ist. Und anders.

Ich glaube, dass wir die Gesellschaft kontinuierlich menschlicher machen können, indem wir bei uns anfangen und die eigene Wahrnehmung ändern. Ich entscheide mich also dafür, meine Grenzen zu akzeptieren und in mir das zu finden, was Spaß macht, die kleinen Details des Lebens zu sehen und herauszufinden, wie ich mich in meinem Körper wohlfühlen kann.

Christophe (Name geändert), 31 Jahre: Arbeitslos wider Willen

Es ist nicht einfach, in einer Gesellschaft zu leben, in der man das Gefühl hat, man müsse gut aussehen, gut gekleidet sein, den anderen gleichen, ein schönes Auto und Geld besitzen. Man glaubt, kein Recht zu haben, anders zu leben. Darum passt man sich aus Angst vor Ablehnung an, so gut es geht, mit dem Risiko, dass man nicht mehr sich selbst ist.

Ich muss mit einer IV-Rente (Rente der Schweizer Invaliden-Versicherung, Anmerkung der Redaktion) auskommen. Mir stehen nur wenige finanzielle Mittel zur Verfügung, um den gleichen Lebensstil wie andere zu pflegen und sich Extras wie Ferien leisten zu können. Trotzdem bin ich nicht arm dran: Ich vermittle das Bild eines gepflegten und gut gekleideten Mannes. Ich habe das Glück, allein in einer hübschen Wohnung zu leben und ein Auto zu fahren, das mir gefällt.

Fehlende Tagesstruktur

Ich bin eingebettet in eine intakte Familie und pflege viele soziale Kontakte. Allerdings bin ich arbeitslos, und das belastet mich. Es ist schwierig, mit meiner Beeinträchtigung einen Job zu finden. Wie soll ich einem Arbeitgeber klarmachen, dass mein Kopf zwar bereit wäre, an fünf Tagen pro Woche pünktlich anzufangen und das volle Pensum zu leisten, aber mein Körper das schlicht nicht schafft? Wie soll ich eine Stelle behalten können bei all den notwendigen Arztterminen, der Müdigkeit und den Schmerzen? Könnte man nicht Jobs schaffen, die man „auf Abruf“ machen kann – bei denen die Rollen getauscht werden und die Unternehmen sich uns anpassen?

Das Bild eines jungen Mannes, der alles hat, aber nicht für sich selbst sorgen kann, ist schwer zu ertragen. Es ist schwierig, keinen Arbeitsrhythmus, keine strukturierten Tage zu haben und am Abend die Zufriedenheit nach einem erfüllten Tag zu spüren. An Gesprächen, die sich um Arbeit drehen, kann ich leider nicht teilnehmen. Das steigert mein Selbstvertrauen gewiss nicht. Mein Leben ist anders als das meines Umfelds. „Anderssein ist eine Stärke!“, habe ich mir tätowieren lassen. Ich wünsche mir, dass diese Stärke vermehrt auch von der Gesellschaft und der Berufswelt geschätzt wird.


Der Text von Jacqueline Calame und Peter Birrer wurde in Ausgabe 2/2023 von paracontact, der Mitgliederzeitschrift der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung erstveröffentlicht. Der-Querschnitt.de bedankt sich ganz herzlich bei den Protagonisten, den Autoren und der paracontact-Redaktion für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung!


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