Lungenentzündungen nach einer Rückenmarksverletzung vermeiden
Die RESCOM-Studie (für Respiratory Complications, Atemwegskomplikationen) liefert neue Erkenntnisse über Lungenentzündungen nach einer Rückenmarksverletzung: Wie häufig kommen sie vor? Wie belastend sind sie? Und wie lassen sie sich vermeiden? Nun gibt es erste überraschende Ergebnisse, die große Auswirkungen auf den richtigen Zeitpunkt für Atemtherapie oder andere präventive Maßnahmen haben könnten.

Lungenentzündungen sind eine der häufigsten Komplikationen und Todesursachen nach einer Querschnittlähmung. Infolge einer Verletzung der Hals- oder Brustwirbelsäule ist die Atemfunktion beeinträchtigt. Dies erhöht das Risiko für Komplikationen wie einer Lungenentzündung (Pneumonie).
Eine Lungenentzündung schränkt die Lebensqualität von Betroffenen erheblich ein. Sie kann die Dauer der stationären Rehabilitation verlängern und im schlimmsten Fall zum vorzeitigen Tod führen.
Viele Fragen zu Lungenentzündungen sind (noch) ungeklärt
Während der Rehabilitation nach einer Rückenmarksverletzung wird durch verschiedene Maßnahmen versucht, die Atemfunktion und den Hustenstoß zu verbessern. Doch es gibt erst wenige wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie diese Funktionen optimiert werden sollten. Auch ist noch nicht ausreichend erforscht, wie sich das individuelle Risiko einer Lungenentzündung vorhersagen lässt.
Mit diesen Fragen beschäftigt sich derzeit ein groß angelegtes Forschungsprojekt, die RESCOM-Studie. Sie startete 2016 und erstreckt sich auf zehn Rehabilitationszentren in der Schweiz, Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Australien. Über 500 Menschen mit Querschnittlähmung haben teilgenommen.
Die Stiftung Wings for Life fördert die Studie mit über 200.000 Euro. Zusätzlich unterstützt eine SwiSCI-Startup-Förderung die vier teilnehmenden Schweizer Paraplegie-Zentren. RESCOM ist in der Schweiz ein SwiSCI-Kollaborationsprojekt, die Patientinnen und Patienten wurden über die SwiSCI-Studie eingeladen. SwiSCI – die „Swiss Spinal Cord Injury Cohort Study“ – ist eine Langzeitstudie für Personen mit Rückenmarksverletzungen, siehe auch externer Link SwiSCI – Home).
Das Herz von RESCOM schlägt in der Schweiz
Gabi Müller Verbiest von der Schweizer Paraplegiker-Forschung hat die RESCOM-Studie initiiert und leitet sie nun. „Unser Ziel ist es, das Risiko einer Lungenentzündung für spezifische Patientengruppen vorherzusagen, um möglichst früh individuelle präventive Maßnahmen zu ergreifen. So soll die Lebensqualität von Menschen mit Querschnittlähmung verbessert werden“, erläutert sie.
Es gibt sehr viele Werte, die als Indikatoren für eine drohende Lungenentzündung in Frage kommen. Deshalb werden für die RESCOM-Studie umfassende Daten während der Rehabilitation im Krankenhaus erhoben: in Bezug auf die Lungenfunktion, Beatmung und Atemtherapie, aber auch auf die körperliche Aktivität, Medikationen, Vorerkrankungen und viele weitere. „Wir untersuchen jeden Aspekt sorgfältig, um Muster und Zusammenhänge zu erkennen“, erklärt Müller Verbiest. „Nur so ist es uns möglich, gezielte Interventionen zu entwickeln, die einen echten Unterschied machen.“
Erste Zahlen – und erste Überraschungen
Nun liegen erste Ergebnisse der RESCOM-Studie vor – und sie sind überraschend: Betroffene entwickelten ihre erste Lungenentzündung im Schnitt bereits sechs Tage nach der Rückenmarksverletzung. Bisher ging man davon aus, dass die erste Lungenentzündung deutlich später auftritt.
Diese Erkenntnis hat große Auswirkungen darauf, wann mit Atemtherapie oder anderen präventiven Maßnahmen begonnen werden sollte, um einer Lungenentzündung vorzubeugen. Ideal wäre: so früh wie möglich nach Eintritt der Rückenmarksverletzung.
Ein zweites Ergebnis der RESCOM-Studie: 14 Prozent der Studienteilnehmenden – eine von sieben Personen – hatten während der Erstrehabilitation mindestens eine Lungenentzündung. Gemäß Studienleiterin Müller Verbiest könnte der tatsächliche Anteil noch höher liegen. Der Grund: Schwerstbetroffene, die z. B. vollständig beatmet werden, konnten oder wollten nicht an der Studie teilnehmen.
Darüber hinaus bestätigt die Studie, dass Personen mit kompletter, traumatisch bedingter Tetraplegie am stärksten gefährdet sind. Einzelne erlitten während der Erstrehabilitation bis zu sechs Lungenentzündungen.
Wie werden die Ergebnisse in die Praxis umgesetzt?
Die Ergebnisse zeigen, wie früh und wie häufig Lungenentzündungen auftreten und bei welcher Art von Rückenmarksverletzung das größte Risiko besteht. So bietet die RESCOM-Studie die Grundlage für präzise und frühzeitigere Interventionen, um das Risiko einer Lungenentzündung für Menschen mit Querschnittlähmung zu minimieren. Außerdem beeinflussen die Ergebnisse, in welche Richtung weitergeforscht wird.
Deshalb hat Müller Verbiest in Zusammenarbeit mit mehreren Partnerinstitutionen ein weiteres Projekt gestartet. Das Ziel: die Beatmungszeit zu verkürzen, um schneller mit der aktiven Atemtherapie zu beginnen.
Dafür hat ein Schweizer Start-up einen nicht-invasiven Stimulator für die Zwerchfellnerven entwickelt. Er soll den durch die Beatmung bedingten Abbau der Zwerchfellmuskulatur verhindern – denn bleibt das Zwerchfell aktiv, kann die Entwöhnung von der Beatmung früher beginnen und das Risiko von Atemwegskomplikationen nimmt ab. Müller Verbiest wird den Stimulator zusammen mit einem interdisziplinären Team aus Wissenschaftlern und Klinikern auf der Intensivstation testen. Innosuisse unterstützt das Projekt mit über einer Million Franken.
Welche Erkenntnisse werden noch erwartet?
Für die RESCOM-Studie sind einige weitere Analysen in Arbeit. Müller Verbiest gibt einen Einblick:
- Entwicklung von Vorhersagemodellen für die Lungenfunktion: Ziel dieser Teilstudie ist es, Vorhersagemodelle für die Lungenfunktion einer jeden Person während der stationären Rehabilitation zu entwickeln. Dies soll personalisierte Interventionen ermöglichen. Untersucht wird, welchen Einfluss auf die Lungenfunktion Faktoren wie das Alter, die Zeit seit dem Unfall und die Art der Rückenmarksverletzung haben. Für diese Studie werden die Lungenfunktionsdaten der RESCOM-Studie mit Daten der SwiSCI-Studie ergänzt, um möglichst verlässliche Vorhersagen treffen zu können.
- Auswirkungen von Lungenentzündungen auf Lebensqualität und Aufenthaltsdauer in der Rehabilitation: „Mit dieser Teilstudie wollen wir die umfassenderen Auswirkungen der Lungenentzündung verstehen, die über die unmittelbaren gesundheitlichen Folgen hinausgehen – insbesondere die Lebensqualität und die Dauer der stationären Rehabilitation“, sagt Müller Verbiest.
- Effekte von Atemtherapie und Training: Die Forschenden untersuchen die Auswirkungen von Atemtherapie und körperlicher Betätigung (Sport- und Physiotherapie) während der stationären Rehabilitation auf die Atemfunktion. „Wir wollen verstehen, wie der Umfang an Therapien und Sport die Atemfunktion bei Menschen mit Querschnittlähmung beeinflusst“, erläutert Müller Verbiest.
Dieser Forschungs-Text wurde auf SwiSCI (Swiss Spinal Cord Injury Cohort Study / Schweizer Kohortenstudie für Menschen mit Rückenmarksverletzungen) erstveröffentlicht. Die Redaktion dankt der Schweizer Paraplegiker-Forschung herzlich für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung!
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