Physiotherapie bei Querschnittlähmung: Viel mehr als ein lästiges Übel
Die Arbeit mit einem Physiotherapeuten ist Teil des Alltags querschnittgelähmter Menschen. Oder handelt es sich dabei nur um einen lästigen und ungeliebten Zusatzaufwand? Maria-Cristina Hallwachs, seit 1993 selbst querschnittgelähmt und rund um die Uhr beatmet, über eine Therapieform, die mitunter dauerhaft mit festen und regelmäßigen Terminen durchgezogen werden sollte.

Katharina (Name von Autorin geändert) hat seit 2018, nach einem Skiunfall, eine Querschnittlähmung in Höhe TH8 und macht deswegen ganz regelmäßig Physiotherapie. Heute, fünf Jahre nach ihrem Unfall, hat Katharina eine Routine entwickelt, in der diese Physiotermine fester Bestandteil ihres Alltags geworden sind. Im Schnitt verbringt sie einen kompletten Arbeitstag pro Wochen mit diesen Terminen, viel Zeit also. Sie sagt aber selbst, es sei gut investierte Zeit. Zeit, die ihr aktuelles Wohlbefinden beeinflusst und Zeit, die in die Zukunft weist und sie für diese Zukunft fit hält.
Was bedeutet das also konkret? Zweimal pro Woche fährt sie in die private Physiotherapiepraxis ums Eck. Kurze Wege, intensive Therapie, jeweils drei Slots am Stück – KG ZNS (Krankengymnastik Zentrales Nervensystem) und manuelle Therapie. Das heißt für Katharina im Bereich ZNS hauptsächlich Durchbewegen, Rumpfstabilität trainieren, Stretching und in der manuellen Therapie Schultern und Rücken geschmeidig halten und die aktuellen und akuten Wehwehchen behandeln.
In den ersten Jahren durfte sie danach noch eine Stunde, von einer Therapeutin angeleitet, an diversen Geräten trainieren, das hat ihr die Krankenkasse aber trotz mehrerer Widersprüche, ärztlicher Gutachten und nachweisbarer Erfolge inzwischen gestrichen.
Therapieoptionen in der Klinik
Zusätzlich fährt Katharina einmal pro Woche in die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Tübingen, an der sie einen Großteil der Erstrehabilitation nach ihrem Unfall gemacht hat. Dort kehrt sie zurück zu den Therapeuten und Therapeutinnen der Anfangszeit, aber auch zu neuen Fachleuten und zu Therapeuten und Therapeutinnen, die fast ausschließlich Menschen mit Querschnittlähmungen behandeln.
Sie bekommt Therapie nach dem PNF-Konzept, spezielle Vojta-Therapie und geht aufs Laufband. Klar ist ihr, dass sie auch mit Laufbandtherapie nicht mehr laufen lernen wird, aber sie genießt das Gefühl, den Boden zu berühren, sie kommt endlich wieder in die Senkrechte und kann so den Kreislauf und den Stoffwechsel anregen.
In der Klinik besteht immer wieder mal die Gelegenheit, ein Gerät auszuprobieren, das sich eine private Praxis nicht so schnell leisten kann. So konnte Katharina schon ein Exoskelett ausprobieren – das allerdings im Rahmen eines stationären Aufenthaltes –, um festzustellen, dass sie persönlich keinen Benefit davon hat. Sie erfährt im Gespräch mit ihren Therapeuten und Therapeutinnen Neuigkeiten auf dem Gebiet der Behandlung von Menschen mit Querschnittlähmungen, an die eine private Praxis gar nicht und erst recht nicht so schnell herankommt.
Das Netzwerk der Kliniktherapeuten und -therapeutinnen ist ein ganz anderes, größeres und individuelleres als das der in Praxen Beschäftigten. Sie haben Zugang zu den Informationen der DMGP, der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie e.V., kennen dort Spezialisten und Spezialistinnen auf anderen, relevanten Themengebieten und erfahren den neusten Stand der Forschung.
Die Kombination von Therapie im Querschnittzentrum und Therapie in einer privaten Praxis ist für Katharina die – momentan – optimale Lösung, ihren Körper für die Herausforderungen des Alltags fit zu halten. Die verschiedenen Therapierenden mit ihren unterschiedlichen Ansätzen ergänzen sich und haben alle eine unverzichtbar wichtige Funktion in Katharinas Leben.
Regelmäßigkeit ist hier Trumpf
Die private Physiotherapiepraxis in der Stuttgarter Innenstadt ist groß. Sie erstreckt sich über zwei Stockwerke, bietet individuelle und nach außen abgeschlossene Räume sowie offene Räume und einen Gerätebereich.
Die engagierte Besitzerin und Therapeutin berichtet, dass sie zwar einige Patienten und Patientinnen mit Querschnittlähmung hat, diese aber trotzdem nur einen geringen Teil ihrer Patienten und Patientinnen ausmachen. Die meisten Menschen mit Querschnitt tauchen direkt nach ihrer Krankenhauszeit oder dem Reha-Aufenthalt bei ihr auf und bleiben in der Regel als Dauer- oder Langzeitpatienten und -patientinnen. Seltener kommen Menschen, die schon lange mit einer Querschnittlähmung leben und wenn diese kommen, dann meist, weil ein ganz akuter Anlass besteht.
Wichtig in der Therapie ist der feste und regelmäßige Termin, der ansteht, den man einplant und den man nicht aus „Unlust“ mal schnell ausfallen lässt, zusätzliche Einheiten an den Geräten (begleitet und unbegleitet) sind immer möglich. Auch die Anleitung für gewisse Übungen zu Hause ist wichtig und muss regelmäßig überprüft werden. Zu Hause schleichen sich Fehler ein oder die Übungen müssen an veränderte Bedarfe angepasst werden.
Ein ganz wichtiger Punkt, insbesondere bei Menschen mit tiefen Lähmungen, ist der Blick von außen. Eine geschulte Person, eben auch eine Physiotherapeutin, kann dabei die Gelenke und besondere Kontrakturrisiken betrachten, die überbelastete Haut im Blick haben oder Fehl- und Ausgleichshaltungen im Alltagsgeschehen ausfindig machen. Auch die Überprüfung und Nachjustierung der Hilfsmittel vom Rollstuhl über Therapiegeräte bis hin zu Zuggeräten oder Hilfsmitteln zur Freizeitgestaltung sind Thema in der Physiotherapiepraxis.
Ganz besonderer Wert wird auf die Betrachtung von Alltagssituationen gelegt. Wie gelingt der Umstieg ins Auto, was muss geübt werden, um besser unter die Dusche oder aus dem Bett zu kommen und wie ist die Haltung im Rollstuhl bei der Computerarbeit, Tipps zur Schonung der extrem belasteten Schultern, Ausgleichstraining für den Rücken und Vermeidung von Fehlbelastungen. Der Unterschied zum Großteil der anderen, nicht querschnittgelähmten Patienten in der Praxis ist, dass kein Therapieziel erreicht werden soll im Sinne einer Behandlung nach Knieoperation, Schlaganfall et cetera, sondern, dass das Haupttherapieziel die lebenslange Fitness ist.
Ganz anders sieht es in der Physiotherapieabteilung der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Tübingen aus. Neben dem Alltag, der Behandlung der stationären Patienten und Patientinnen, gibt es ein kleines Zeitkontingent für ambulante Patienten und Patientinnen. Im Moment sind es 20 Para- und Tetraplegiker und -plegikerinnen pro Woche, die zur regelmäßigen Physiotherapie kommen, darunter auch Katharina. Die Motivation dieser Patientengruppe in das Krankenhaus zu gehen, ist sehr unterschiedlich.
Die einen möchten gerne den Kontakt zum Zentrum ihrer Erstrehabilitation halten, die anderen suchen die spezielle Vojta-Therapie, die es als Angebot für Erwachsene nicht sehr häufig gibt und wieder andere schwören auf die große Erfahrung im Bereich Querschnitt, die man in der Physiotherapie dort findet.
Blick auf den Allgemeinzustand
Häufig tauchen die Patientinnen und Patienten in den ersten Jahren ihrer Querschnittlähmung auf und verschwinden im Laufe der Zeit wieder, was in den meisten Fällen bedeutet, dass alles tipitopi ist. Für die einen ist es schlicht eine Übergangsphase von der geschützten Atmosphäre der Erstrehabilitation in den Alltag, manche schaffen den großen Zeitaufwand nicht mehr, wenn sie zurück sind im Berufsleben oder die Anforderungen eines Familienlebens wieder aufnehmen und wieder andere schöpfen lieber die zeitlich flexibleren Angebote einer Praxis zum Beispiel abends nach der Arbeit aus.
Eine andere Gruppe sind diejenigen, die jahrelang sehr fit und aktiv waren und dann mit den ersten Zipperlein erscheinen, die aufgrund des ganz natürlichen, körperlichen Alterungsprozesses und aufgrund der jahrelangen Zusatz- und Fehlbelastungen eines Lebens mit Querschnittlähmung auftreten. Andere Komplikationen wie Operationen, Dekubitus et cetera erlauben einen kurzen Blick der Therapeuten und Therapeutinnen auf die gesamte körperliche Situation und ermöglichen eventuell ein Zehnerpaket Physiotermine zur Neujustierung oder gar eine Reihe regelmäßiger Termine, bei denen umfassend neu gearbeitet werden kann. Manchmal hilft im Älterwerden auch eine regelmäßige Kontrolle im Sinne der lebenslangen Nachsorge, also der Blick auf körperliche Veränderungen von Haut, Knochen, Gelenke, Hilfsmittel, Rollstuhl und anderem.
Konkurrenzlos ist im Krankenhaus auch die Möglichkeit, einen Kollegen hinzuziehen, schnell mal einen Arzt oder eine Ärztin draufschauen zu lassen, den Atmungstherapeuten/die -therapeutin um Rat zu fragen oder mit dem Orthopädiemechaniker/der -mechanikerin gemeinsam den Rollstuhl anzuschauen und wenn nötig einen neuen Anpassungstermin zu vereinbaren. In der ambulanten Therapie bedeutet es einen fast nicht bewältigbaren Organisationsaufwand, zwei Therapierende unterschiedlicher Richtungen zu einem Termin zusammen zu bekommen.
Eine weitere wichtige Möglichkeit, die nur eine Klinik bieten kann, ist der Kontakt zu anderen Menschen mit Querschnittlähmungen. Katharina begegnet ihnen zwangsläufig während der Therapie oder auf den Fluren. Sie kann bei ihnen Informationen für sich persönlich einholen oder auch von ihren eigenen Erfahrungen berichten im Sinne des Peer Counselings, für das sie bei der FGQ, der Fördergemeinschaft Querschnittgelähmter in Deutschland e.V., ausgebildet worden ist.
Sie kann den Erfahrungsschatz der Therapeutinnen und Therapeuten um den ihres eigenen Lebens erweitern oder einfach nur mal über Themen sprechen, die draußen tabu sind, hier aber gelebten Alltag bedeuten. Sie kann außerdem in das Angebot des Breitensportes oder des Schwimmens reinschnuppern, das der RSKV Tübingen in Kooperation mit der BG anbietet und auch mal auf „Q“, die Querschnittstation, gehen, um einen persönlichen Rat vom Pflegeteam einzuholen oder auch das Ärzteteam hinzuziehen.
Ein bunter Strauß an Möglichkeiten
Am Ende bleiben noch zwei extrem wichtige Erfahrungen aus Katharinas Leben zu berichten: Es ist von unschätzbarem Wert, ein großes Repertoire an Möglichkeiten zu besitzen, aus dem man zu gegebenem Anlass das Passende zum Physiotherapiealltag hinzufügt. Der Seilzug zu Hause, mit dem man zwischendurch trainieren kann, das Workout mit einer Kollegin am Bildschirm, das ein bisschen Rumpf- und Armtraining bietet, Yogaübungen, Gedankentraining, Entspannungsmomente und natürlich auch die Sporthobbys wie das Handbiken oder der Breitensport.
Der zweite Punkt ist, der Einsatz der verschiedenen (Physio-)Therapeutinnen und -Therapeuten für Menschen mit Querschnittlähmung. Ja, es ist ihr Beruf, für den sie bezahlt werden, aber das Engagement geht oft weit in den Alltag der Menschen mit Querschnittlähmung hinein und hat einen immensen Einfluss auf die Lebensqualität dieser Menschen. Dies gilt von den ersten Momenten eines völlig neuen Lebens mit Querschnittlähmung über das alltägliche Auf und Ab dieses Lebens hin bis zu vielen, ausgefüllten Jahren mit einer erworbenen Querschnittlähmung.
Der Text wurde in Ausgabe 4/2023 der Zeitschrift RehaTreff erstveröffentlicht. Der-Querschnitt.de bedankt sich ganz herzlich für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung!
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