Regeneration von Nervenzellen bei Querschnittlähmung: Die Blockade blockieren mit neuen Medikamenten
Mike Kelly, Präsident und CEO des US-amerikanischen Unternehmens NervGen Pharm Corp. (externer Link) kündigte im September 2023 vollmundig an: „Dies ist ein bedeutender Meilenstein für NervGen und ein aufregender Tag für Menschen mit Rückenmarksverletzungen.“ Anlass war die Meldung, dass der erste Patient den Wirkstoff NVG-291 erhalten hat, der die Regeneration von Nervenzellen fördern soll.

Erste Ergebnisse will die Firma 2025 präsentieren. Der NervGen Chef ist von der Wirksamkeit überzeugt: „Wir glauben, dass die Ergebnisse ein wichtiger Schritt sein werden, der uns der ersten zugelassenen Therapie für Rückenmarksverletzungen näherbringt“, so Kellys Statement in einer
Pressemitteilung. Doch was ist wirklich dran an NVG-291? Wie wirkt die Substanz, wie läuft die aktuelle klinische Studie ab und welche Hürden muss die Wissenschaft überwinden?
Geringe natürliche Regenerationsfähigkeit
„Beim Menschen ist die Regenerationsfähigkeit des zentralen Nervensystems gering“, bringt Prof. Dr. Frank Edenhofer vom Institut für Molekularbiologie an der Universität Innsbruck das Problem auf den Punkt. Unmittelbar nach einer Verletzung des Rückenmarks, zum Beispiel durch einen Unfall, sterben Nervenzellen innerhalb von Minuten bis Stunden ab.
„Durch Einblutungen, Entzündungen, aktivierte Immunzellen und die Vernarbung entstehen auch in den Wochen und Monaten nach dem akuten Ereignis noch Folgeschäden am Nervengewebe“, erklärt Edenhofer, der die Forschungsgruppe „Genomik, Stammzellbiologie und regenerative Medizin“ leitet.
Die akute wie die chronische Phase müsse man im Blick haben, betont der Wissenschaftler, und im Rahmen einer idealen Therapie im Prinzip drei Dinge angehen: Mit Hilfe einer Operation geschädigte Wirbelkörper stabilisieren, um das Gewebe zu entlasten. Der Entzündung und Narbenbildung entgegenwirken, zum Beispiel durch die Gabe von Entzündungshemmern. „Ein dritter wichtiger Schritt, der leider noch nicht im klinischen Alltag praktiziert werden kann, ganz einfach, weil es die entsprechenden Medikamente noch nicht gibt, versucht, das Regenerationspotential der verletzten Nervenzellen wiederherzustellen“, sagt Frank Edenhofer.
Wirkstoffe in klinischen Tests
Das Wissen um die molekularen Vorgänge, die es den Nervenzellen erschweren, an der Verletzungsstelle wieder neu auszuwachsen, ist in den letzten Jahrzehnten erheblich größer geworden. Das hat zur Folge, dass sich aktuell etwa eine Handvoll verschiedener Wirkstoffe in Testphasen befindet, die das Potential
der Nervenzellen erhöhen sollen, sich zu regenerieren. Dazu gehört die Gruppe der Substanzen, die auf die Immunabwehr einwirken und sie beruhigen sollen. Außerdem werden Wirkstoffe getestet, die dafür sorgen, dass sich Nervenzellen wohl fühlen. „Durch die Gabe solcher neuroprotektiven oder eurotrophen Faktoren sollen die intakten Nervenzellen, die nach dem Unfall noch vorhanden sind, erhalten und geschützt werden. Im Idealfall sorgt ein solch unterstützendes Umfeld auch dafür, dass sich neue Nervenfasern ausbilden“, erklärt Edenhofer.
Nach dem Unfall bildet sich im Rückenmark eine Narbe. „Dabei wandern zum Beispiel Fresszellen ein, um aufzuräumen, und es sammeln sich sogenannte Astrozyten an der Verletzungsstelle, um unter anderem die Blut-Hirn-Schranke und die Struktur des Nervengewebes wiederherzustellen“, erklärt Privat-Dozent Dr. Dr. Björn Zörner, Chefarzt Paraplegiologie im Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. „Der Körper will den Schaden begrenzen und reparieren. Dabei bildet sich außerhalb der Zellen eine Art Gitter oder Matrix, die entstandene Hohlräume ausfüllt.“
„Doch Moleküle auf diesem Gitter können einen negativen Einfluss auf das Wachstum von Nervenzellen haben“, erklärt Björn Zörner. Inzwischen kenne man mehrere verschiedene solcher blockierenden
Moleküle. Eine Gruppe an Wirkstoffen, die die Heilung von Rückenmarksverletzungen fördern
will, setzt genau hier an. NVG291 gehört dazu.
NVG-291 soll Blockade blockieren
„Zu den Stoppsignalen, die der Nervenzelle sagen: ‚Hier hast du nichts zu suchen‘, gehört ein Molekül mit dem Namen Chondroitin-Sulfat“, sagt Frank Edenhofer. Der Körper produziert dort, wo das Rückenmark verletzt ist, besonders viel Chondroitin-Sulfat – eine Art Mix-Molekül, das aus einem Eiweiß- und einem Zuckeranteil besteht. Chondroitin-Sulfat vermittelt seine hemmende Wirkung über Rezeptoren, die die Nervenzellen auf ihrer Oberfläche tragen.
„Der Wirkstoff NVG-291 blockiert genau diese Rezeptoren. Das vom Chondroitin-Sulfat ausgesendete Stoppsignal kommt also bei den Nervenzellen gar nicht an“, so Edenhofer.
NVG-291 besteht aus etwa 20 Aminosäuren. Die Substanz geht auf Forschungen zurück, die der US-amerikanische Neurowissenschaftler Jerry Silver bereits in den 1990er Jahren durchführte. In Laboruntersuchungen förderte NVG-291 das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen, also das axonale Wachstum, auch in Gegenwart hemmender chondroitin-sulfathaltiger Matrix.
Ein Durchbruch gelang vor knapp zehn Jahren bei einer Studie mit Mäusen. Die Gabe von NVG-291 bewirkte bei den Versuchstieren mit verletztem Rückenmark eine bessere Bewegungs- und auch Harnfunktion als bei Tieren, die den Wirkstoff nicht erhalten hatten. In einer Studie mit Ratten konnten Forschende der Universität Köln die Ergebnisse ihrer US-Kollegen ein paar Jahre später wiederholen.
NVG-291-Studie in Chicago gestartet
Der Erfolg im Tiermodell ebnete den Weg zur klinischen Studie. Eine Phase1-Studie zur Testung der Verträglichkeit und Sicherheit an gesunden Freiwilligen wurde Anfang 2024 abgeschlossen. Es
zeigten sich keine unerwarteten schädlichen Nebenwirkungen von NVG-291, berichtet Frank Edenhofer beim jährlichen Scientific Meeting von Wings for Life, das Ende April 2024 in Salzburg stattfand.
Seit September 2023 behandelt das US-Team um Dr. Monica Perez vom Shirley Ryan AbilityLab (Chicago) in einer Phase 1b/2a-Studie nun auch Patientinnen und Patienten mit Rückenmarksverletzungen. Offenbar habe es in der ersten klinischen Testphase keine gravierenden Nebenwirkungen gegeben, sonst wäre man den Schritt in die nächste klinische Phase sicher nicht gegangen, mutmaßt Björn Zörner.
In der doppelblinden, randomisierten, Placebo-kontrollierten Studie wird das Medikament an zwei verschiedenen Patientengruppen getestet. Teilnehmen können Betroffene mit einer inkompletten Querschnittlähmung und einer neurologischen Verletzungshöhe von C7 oder höher. Bei der einen Gruppe
liegt das Unfallereignis zehn bis 49 Tage zurück. Bei der anderen ein bis zehn Jahre. Die Teilnehmenden erhalten zwölf Wochen lang eine tägliche Injektion mit dem Wirkstoff oder dem Placebo. Das Medikament kann unter die Haut gespritzt werden. Die Studiengruppe erhofft sich, die motorischen Funktionen zu verbessern.
Ein äußerst ambitioniertes Ziel, meint Edenhofer. Man müsse sehr aufpassen, die Hoffnungen und Erwartungen, die möglicherweise mit dieser Studie verbunden sind, nicht zu hochzuschrauben:
„Ein Wirkstoff allein wird keine Wunder vollbringen.“ Schließlich gebe es neben dem Chondroitin-Sulfat noch eine Handvoll anderer molekularer Stoppsignale, die im Narbengewebe das Auswachsen
der Nervenzellen hemmen.
Neuritenwachstumsinhibitor „Nogo“
Eines davon ist der Neuritenwachstumsinhibitor „Nogo“ – ein Molekül, das der Zürcher Neurobiologe Prof. Martin Schwab bereits Ende der 1980er Jahre entdeckte. Schwab entwickelte zusammen mit anderen Forschenden einen therapeutischen Antikörper, der Nogo hemmt. Die Ergebnisse einer Phase2-Studie, die im Juli 2023 abgeschlossen wurde, sollen demnächst veröffentlicht werden. „Die Resultate sehen vielversprechend aus“, sagt Björn Zörner, Chefarzt am Schweizer Paraplegiker-Zentrum, das an der Studie teilnahm.
Was das genau heißt, kann er noch nicht verraten. Stammzellen als Nervenpflaster Frank Edenhofer ist von den Möglichkeiten dieser Medikamente, ob NVG-291 oder Nogo-Antikörper, nur begrenzt
überzeugt: „Bei allen Wirkstoffen, die getestet werden, wird die tatsächliche Regeneration des Nervengewebes minimal bleiben.“ Seiner Meinung nach braucht es für eine wirkliche Heilung einen völlig anderen, „radikaleren Ansatz“: Statt die Nervenzellen vor Ort therapeutisch zu „überreden“ wieder auszuwachsen, setzt Edenhofer auf die Gabe neuronaler Stammzellen, welche die Reparatur durch ihre Regenerationseigenschaften bewirken sollen.
Potenzial für die Zukunft
Sein Team in Innsbruck hat eine Methode entwickelt, mit der man solche Stammzellen aus normalen Körperzellen herstellen kann. Eine Anwendung beim Menschen stehe noch in weiter Ferne –
auch bei stammzellbasierten Therapien gäbe es noch viele Fragezeichen. Doch da die Methode relativ schnell und günstig sei, wäre es sogar denkbar, Nachschub an Nervenzellen herzustellen und sie womöglich zu transplantieren, wenn sich die Rückenmarksverletzung gerade erst ereignet hat, hofft der Forscher.
Auch die Innsbrucker haben den langen Weg über die Tierstudien noch vor sich. Was Studien mit NVG-291 und Nogo-Antikörpern aber allemal zeigen: Die Forschungen auf dem Gebiet der Rückenmarksverletzungen haben Potential für die Zukunft.
Der Text von Dr. Ulrike Gebhardt wurde in Ausgabe 2/2024 der Zeitschrift „Der Paraplegiker“ erstveröffentlicht. Die Redaktion von Der-Querschnitt.de bedankt sich herzlich für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung.
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