Versorgung mit Inkontinenzhilfsmitteln: Manchmal darf es auch ein bisschen mehr sein
Eine Krankenkasse muss einem berufstätigen Mann mehrere Tausend Euro erstatten, die er zunächst als „wirtschaftliche Aufzahlung“ hatte selbst bezahlen müssen. Nun entscheid das Sozialgericht Frankfurt am Main, dass der Mann sehr wohl einen begründeten Anspruch auf eine Versorgung mit relativ teuren Inkontinenzwindelhosen mit „hoher Saugleistung“ hat, die – aufgrund seiner Berufstätigkeit – zudem unter der Kleidung kaum auftragen.

„Das Sozialgericht ist unserer Argumentation gefolgt, dass die zwischen Kassen und Leistungserbringern vereinbarten Versorgungspauschalen für den Versicherten keine Relevanz haben“, betont Rechtsanwalt Christian Au auf seinem Facebook-Account. Au hat das Urteil (AZ: S 34 KR 850/21) erstritten und konnte mit seinem Mandanten nachweisen, dass er gemäß § 33 SGB V einen Anspruch auf die Versorgung mit den Hilfsmitteln habe, „deren Qualität und Stückzahl zum Ausgleich seiner Behinderung erforderlich sind. Dieser Anspruch kann nicht durch zwischen Kassen und Leistungserbringern vereinbarte Festpreise eingeschränkt werden“, so Au weiter.
Hintergrund
Der Kläger leidet als Folge einer Darmkrebserkrankung unter einer Blasenentleerungsstörung. Aufgrund der dadurch entstehenden Nässe und aufgrund eines geschwächten Immunsystems erkrankt er zudem häufig an Blasenentzündungen. Sein behandelnder Arzt, so die offizielle Mitteilung des Bürgerservice Hessen, habe ihm eine Inkontinenzversorgung mit den Inkontinenzhilfen „Attends Slip Regular 10 medium“ (4 Stück pro Tag), sowie der „Better Dry M10“ (1 Stück pro Nacht), verordnet.
Über Monate hinweg kam es jedoch bei den Leistungserbringern, die die Krankenkasse benannt hatte, zu Engpässen. Der Mann musste sich die Windeln anderweitig (also nicht über einen Vertragspartner der Krankenkasse) besorgen. Die Krankenkasse lehnte es jedoch ab, für die dadurch entstandenen Mehrkosten aufzukommen.
Begründung: Inkontinenzhilfen seien „festbetragsfähig“. Sofern für bestimmte Hilfsmittel Verträge geschlossen seien, habe die Versorgung durch einen Vertragspartner zu erfolgen. Danach hätten sich die Vertragspartner verpflichtet, Versicherten mit einer monatlichen Versorgungspauschale zu versorgen. Die vom Kläger begehrten Produkte fielen nicht unter die Versorgungspauschale. Die Krankenkasse sei daher nur verpflichtet, im Rahmen einer Notversorgung einen relativ kleinen Betrag der Kosten zu übernehmen.
Doch der Kläger beharrte auf den beiden Windelmodellen, die er schon seit längerem trägt.
Sicherer Sitz wichtiges Argument
Bereits der Medizinische Dienst hatte in einem Gutachten ausgeführt, dass bei dem Kläger eine komplizierte Blasenentleerungsstörung mit Resturinbildung und plötzlicher Entleerung hoher Urinvolumina vorliege. Die Versorgung mit Inkontinenzwindelhosen „hoher Saugleistung“ sei nachvollziehbar. Auch böten die von ihm gewünschten Inkontinenzwindelhosen Vorteile gegenüber Windeln mit Klebestreifen, da sie sich nicht lösen würden – ein wichtiger Aspekt für den mobilen und berufstätigen Mann. Der Bedarf erscheine nicht ungewöhnlich.
Für das Gericht erschien es aufgrund des Gutachtens nachvollziehbar, „dass entsprechende Inkontinenzhilfen benötigt werden. Auch hat der Kläger im Verfahrensverlauf ausführlich dargelegt, dass die streitgegenständliche Versorgung zum Ausgleich seiner Behinderung erforderlich ist.“
Mitwirkungspflicht erfüllt
Der Kläger konnte nachvollziehbar nachweisen, dass er mehrfach versucht hat, von den Leistungserbringen der beklagten Krankenkasse eine vergleichbare Versorgung zu erhalten. So habe er vor Gericht eine Tabelle vorgelegt, aus der hervorgeht, dass ihm nur ein kostenloses (also aufzahlungsfreies) Produkt angeboten wurde, allerdings in geringerer Menge als benötigt und ohne Nachtwindel. Teils boten die Produkte keinen Nässeschutz, teilweise erfolgte keine Musterzusendung und oft wurden Aufpreise verlangt, so das offizielle Dokument weiter.
Bei einem Erörterungstermin hatte der Kläger zudem mehrere Modelle verschiedener Inkontinenzhilfen mitgebracht und demonstriert, welche Unterschiede bestehen. Dabei sie von besonderer Bedeutung, dass er berufstätig sei und im Kontakt mit Kunden und Geschäftspartnern nicht erkennbar sein soll, dass Inkontinenzhilfen verwendet werden, so die Urteilsbegründung.
Die begehrten Produkte für den Tag, „Attends Slip Regular M10“, seien deutlich weniger „dick“ als vergleichbare Produkte anderer Hersteller und damit unter der Kleidung nicht erkennbar. Verständlich sei auch, dass bei unwillkürlicher vollständiger Blasenentleerung Produkte mit höchster Dichtigkeit benötigt werden.
„Berechtigtes Interesse“
Im Gegensatz dazu sei es der beklagten Krankenkasse nicht gelungen, den Kläger auf andere Produkte zu verweisen, die die Behinderung des Klägers ausreichend ausgleichen. „So war der Kläger nicht gemäß § 33 Abs. 6 Satz 2 SGB V auf eine Windellieferung durch den Vertragspartner der Beklagten beschränkt, weil die angebotenen Produkte von Qualität und Menge unzureichend waren.“ Anders ausgedrückt: „Windeln sind zum Ausgleich der Inkontinenz ungeeignet, wenn sie trotz ordnungsgemäßen Anlegens nicht so passen, dass sie dichthalten.“
Auch wenn es sich bei dem Urteil, das die Krankenkasse dazu zwingt, die entstandene Differenz zwischen genutztem Produkt und Vertragsprodukt doch noch zu zahlen, um einen Einzelfall handelt: Die Argumentation des Gerichts dürfte für viele Menschen, die Inkontinenzprodukte – oder andere Hilfsmittel – benötigen, von Interesse sein: Versicherten solle es gegen Übernahme der Mehrkosten möglich sein, andere Leistungserbringer zu wählen, „wenn ein berechtigtes Interesse besteht. Verweise die Krankenkasse den Versicherten auf die vertragsgebundenen Hilfsmittelerbringer, ist der Versicherte nicht auf diese beschränkt, wenn er dort das Hilfsmittel nicht zu gleichen (oder gar besseren) Bedingungen, wie sie ein nichtvertragsgebundener Leistungserbringer bietet, beziehen kann.
Aus Sicht des Gerichts hat der Kläger seine notwendige Mitwirkungspflicht erfüllt und die Gründe für eine Versorgung mit den begehrten Inkontinenzhilfen „ausführlich und nachvollziehbar dargelegt“. Letztlich sei es der beklagten Krankenkasse nicht gelungen darzulegen, dass eine wirtschaftlichere Versorgung des Klägers zum Ausgleich seiner Behinderung möglich sei.
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Ob und in welchem Umfang private Krankenkassen die Kosten für Hilfsmittel, Therapien o.ä. übernehmen, ist individuell in der jeweiligen Police geregelt. Allgemeingültige Aussagen können daher nicht getroffen werden.