Da geht noch was! Positive Sexualität nach einer Rückenmarksverletzung
Wie kann ich mit Querschnittlähmung Lust und Sinnlichkeit (wieder-)entdecken? Zur Beantwortung dieser Frage hat Dr. Marita Heck einen erotischen Ratgeber geschrieben. In ihm gibt die Sexual-Therapeutin viele Inspirationen und Impulse. „Sinnlichkeit der Verbundenheit“ ist ein Workbook. Oder besser gesagt, in den Worten von Dr. Heck: Ein „Playbook“, für Menschen, die Lust darauf haben, eine neue Sinnlichkeit, eine positive Sexualität zu entdecken.

Dr. Heck lebt in Australien. Dort begleitet sie akademisch und therapeutisch seit vielen Jahre Paare und Einzelpersonen, die nach einer Rückenmarksverletzung ihre Sexualität neu entdecken möchten. Ihr Buch „feiert die unendliche, anpassungsfähige, freudige und verspielte Natur menschlicher Intimität“. Es will in zwölf Kapiteln Mut machen, Neues auszuprobieren.
Neue Wege zu erfüllter Sexualität
Weshalb das für Menschen, die mit Querschnittlähmung leben, so wichtig ist, hat Dr. Heck mit vier Kollegen erforscht. In einer Meta-Analyse Wege zeigen sie Wege zu einer erfüllten Sexualität auf.
Dazu haben sie 38 internationale Studien ausgewertet und unter einem etwas anderen Blickwinkel betrachtet. Denn während bei vielen Studien der Fokus auf den Einschränkungen und Herausforderungen liegt, schauten die Australier auf die Möglichkeiten der Lust. „Die Studie verfolgt einen ressourcenorientierten Ansatz und untersucht gezielt förderliche Faktoren, die eine positive Sexualität für Menschen mit Querschnittlähmung“ ermöglichen. So formulierte es Dr. Heck auf der Jahrestagung der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie (DMGP) 2025 in Heidelberg.
Sinnlichkeit neu erwecken: Vier zentrale Punkte
Dort stellt sie kurz die Studien-Ergebnisse vor. Es gebe vier zentrale Themen, die positive Sexualität fördern:
1. Sexuelle Aktivität
Die Möglichkeit, sexuell aktiv zu sein, gilt als zentraler Faktor. Einige Menschen mit Querschnittlähmung beschrieben ihre ersten sexuellen Begegnungen nach der Verletzung als ermutigend und „eine großartige Erfahrung“. Diese Erfahrungen führten zu einer erhöhten Motivation, weitere Möglichkeiten des sexuellen Ausdrucks zu suchen. Einige beschrieben diese Möglichkeiten als Wendepunkte in ihrem Sexualleben.
2. Neue und alternative Formen sexueller Ausdrucksweisen
Viele Menschen mit Querschnittlähmung und ihre Partner, bzw. Partnerinnen, setzen auf die Erkundung neuer Wege, Sexualität zu erleben. Dazu entfernen sie sich auch oft von traditionellen Vorstellungen. „Menschen mit Querschnittlähmung entwickeln oft eine neue Perspektive auf Sexualität, die über rein körperliche Aspekte hinausgeht“, sagt Dr. Heck. „Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und deren Integration in das Selbstbild“, so die Wissenschaftlerin weiter, „trägt wesentlich zu einem positiven Umgang bei.
3. Erfüllte Partnerbeziehungen
Die eigene, vielleicht auch neue Sexualität wahrzunehmen, fällt besonders leicht, wenn man in einer positiven und unterstützenden Partnerschaft lebt.
4. Unterstützung durch Gleichgesinnte
Wer mit anderen querschnittgelähmten Menschen oder deren Partner über deren Sexualität spricht, tut sich leichter damit, die eigene Sexualität zu entdecken oder zu akzeptieren.
Die komplette Studie kann (externer Link) hier nachgelesen werden: Sex-positive sexuality post- spinal cord injury: A systematic review and qualitative metasynthesis.
Verspielter Leitfaden
Diese akademischen Überlegungen greift sie in ihrem Buch auf, das ein verspielter Leitfaden hin zu mehr sex-positiver Sinnlichkeit ist. Zunächst klärt sie das Wesentliche: Was bedeutet Sexualität wirklich? Dr. Heck sieht den wahren Kern sexueller Verbindungen im Verlangen ohne Erwartungen, in Neugier, Verbindung und Kreativität. Vieles sei möglich: Haut-auf-Haut-Kontakt, Blicke, Lachen, Neckereien, Halten, gemeinsames Atmen, das Feiern von Nähe und körperlicher Berührung, leidenschaftliche Küsse.

Jedes Kapitel folgt einem ähnlichen Schema: Zunächst ein motivierender, einfühlsamer Text, gefolgt von Übungen, Reflexionen und Anregungen, wie positive Sexualität und Intimität neu entdeckt und Leidenschaft neu entfacht werden kann.
Sinnlichkeit lässt sich üben
Ein Beispiel aus Kapitel 2, „Berührung, Intimität & der sinnliche Körper“. Hier geht es darum, wie Paare das gemeinsame Einbeziehen der Sinne zu einem sinnlichen Ritual werden lassen können:
- „Umarme deinen Partner oder deine Partnerin und atme tief ein, konzentriere dich auf den Geruch des Raums zwischen euch.
- Streiche mit deinen Händen über Arme, Gesicht oder Schultern und merke die Temperatur und Textur. Oder, eine etwas spielerische Variante: lehn dich in einen tiefen sinnlichen Kuss hinein für mindestens fünf Minuten.
- Teilt etwas Köstliches zum Schmecken miteinander, z.B. Schokolade, Erdbeeren oder Eiswürfel. Erzählt euch eine Geschichte dazu und macht daraus ein verspieltes Erlebnis.
- Zünde Räucherstäbchen an oder teile deinen Lieblingsduft, bei dieser Übung achte bitte auf Allergien und Haustiere.
- Haltet euch an den Händen und schaut euch minutenlang in die Augen. Augenkontakt kann eine der stärksten Verbindungen zwischen zwei Menschen schaffen.“
Auf rund 90 Seiten ist jedem Aspekt der Sexualität ein eigenes Kapitel gewidmet von „emotionaler Intimität“ über „Kommunikation, Konsens & Selbstbewusstsein“, „Sexuelle Gesundheit & Sicherheit“ bis zu „Positionen, Lust & spielerische Entdeckungen“.
Der Ratgeber ist ein Playbook, das Mut macht und dazu anregt, selbst aktiv zu werden. Er ist kein medizinisches Handbuch und keine wissenschaftliche Abhandlung. Für die, denen neben dem praktischen Ausprobieren auch die theoretische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema wichtig ist, nennt Dr. Heck jeweils Literaturtipps. Weiterführende Quellen und ein Glossar komplettieren den Ratgeber, der nicht nur aus ihrer praktischer Erfahrung als Beraterin entstand, sondern auch auf Basis ihrer wissenschaftlichen Arbeiten.
Fokus auf dem, was möglich ist
So wie die jüngste, oben erwähnte Studie. Dort kommen die Autoren zu dem Schluss, dass nach Eintritt einer Querschnittlähmung der Fokus auch in der Rehabilitation auf dem liegen sollte, was möglich ist. Und das ist viel! „Um eine sex-positive Herangehensweise in der Sexualitätsrehabilitation zu etablieren, sollten diese Aspekte gezielt in der Forschung sowie im klinischen Kontext berücksichtigt werden. Eine ressourcenorientierte Perspektive kann nicht nur das individuelle Wohlbefinden fördern, sondern auch zur gesellschaftlichen Enttabuisierung des Themas beitragen.“
Zur Person
Dr. Heck ist Praktikerin und zugleich auch Theoretikerin. Unter anderem ist sie als Forschungsleiterin an der Griffith University (Queensland, Australien) tätig. Zudem unterhält sie mit einem Verbund aus Querschnitt-Experten eine sehr lesenswerte Internet-Seite (externer Link): sexpositivecommunity.com. Außerdem arbeitet sie als klinische Pflegeberaterin für Menschen mit Querschnittlähmung und ist Hebamme. Ihr Spezialgebiet ist die Unterstützung von querschnittgelähmten Menschen „auf dem Weg in ihre sexuelle Wiederentdeckung“.