Treppen? Toiletten? Tische? Die innere Checkliste von Menschen mit Querschnittlähmung, die spontan ausgehen wollen

„Wollen wir in das neue Café gehen? Das sieht so cool aus!“. Hmmm. Welchen Dominoeffekt im Kopf so eine nett gemeinte Einladung bei querschnittgelähmten Menschen – gerade, wenn sie im Rollstuhl unterwegs sind – auslöst, darüber erzählt die Bloggerin Svenja Gluth in einem Video. „Diese Freude mit angezogener Handbremse, die kennen wir zu gut!“, sagen Jana Sohm und Vincent Kast. Beide vermissen manchmal die Spontanität in ihrem Leben. Denn wegen ihrer Tetraplegie müssen sie erst planen und abchecken – und erst danach können sie sich auf die Verabredung freuen. Oder auch nicht.

Bei Vincent, Svenja und Jana rattert beim Thema Ausgehen sofort die innere Checkliste im Kopf los.

Jana und Vincent studieren. Er Physik in Frankfurt, sie Psychologie in Konstanz. Beide haben einen stabilen Freundeskreis und treffen sich gerne mit anderen Menschen. Aber spontan nach der Uni noch etwas zu unternehmen, ist für sie oft nicht möglich. Denn ein Leben mit Tetraplegie (oder auch Paraplegie) ist auch immer ein Leben, das durchgeplant ist.

Bloggerin Svneja Gluth spricht vermutlich vielen Menschen mit Querschnittlähmung aus dem Herzen.

„Sofort gehen die Gedanken los“

„Ich habe mich da sehr verbunden gefühlt, als Svenja über ihr Dilemma sprach“, sagt Vincent im Telefon-Interview.“  Auch Jana kennt die Situation nur zu gut: „Dieses Ding, dass sofort die Gedanken losgehen. Bevor man sich freut, geht erst einmal die Planung los: Passt es örtlich? Passt es zeitlich?“ Ähnliches erlebt auch Vincent immer wieder: „Erst wenn ich das in meinem Kopf geklärt habe, dann freue ich mich!“

Die Redaktion hatte mit den beiden jungen FGQ-Peers Kontakt aufgenommen, um mit ihnen über ein Video (externer Link) der Bloggerin Svenja Gluth zu sprechen. Svenja stellt dort Gedanken von Menschen ohne Behinderung die Gedanken von Menschen mit Behinderung gegenüber.

Innere Checkliste läuft an

Der innere Dialog, den sie wiedergibt, startet mit einer einfachen Frage eines Menschen ohne Behinderung: „Wollen wir in das neue Café gehen? Das sieht so cool aus!“. Danach folgt – im Kopf des Menschen mit Behinderung – ein Dialog mit deutlich mehr als zwei Überlegungen:

„Ja. Aber Moment.
Weiß du, ob dort ein behindertengerechter Parkplatz in der Nähe ist? Und gibt´s da eigentlich am Eingang Stufen oder eine Rampe oder ist das ebenerdig?
Ich habe auf der Webseite echt schon mal geschaut, aber ich habe leider dazu keine Auskunft gefunden und keine Bilder gesehen und ob´s da eine rollstuhlgerechte Toilette hat, sonst muss ich das wieder einplanen.
Vielleicht gibt es irgendwo in der Nähe eine. Muss ich mal recherchieren. Erst wieder danach aufs Klo? Nicht so viel trinken? Oh, keine Ahnung.
Und oh – hoffentlich stehen die Tische und Stühle nicht so nah, dass ich durch passe oder – boah – nachher ist das wie in dem neuen Trendcafé nebenan so, dass es nur Stehtische gibt und Hochstühle.
Oh. Und ob der Tresen so ist – oh das wäre so schön, wenn der so wäre, dass ich drüber schauen kann und mir die Kuchen und so selber aussuchen kann. Das wäre so cool.
Weiß nicht, wie das ist. Vielleicht rufe ich vorher einfach mal an, bevor ich einfach hingehe.“

„Frage immer ganz konkret nach“

Vincent Kast geht auf Nummer Sicher und fragt am Telefon nach, wie barrierefrei ein Lokal tatsächlich ist.

Treppen und Tische. Punkte, die auch bei Vincent und Jana ganz oben auf der Liste stehen. Vincent geht inzwischen auf Nummer Doppel-Sicher: „Barrierefreiheit ist ja mehr als nur die fehlende Treppe vor der Tür. Ich wohne in Frankfurt, da gibt viele ältere Gebäude, und ich kann jeden Besitzer verstehen, der nicht alle Vorgaben in Sachen Barrierefreiheit sofort umsetzen kann. Aber für mich ist das schon eine Einschränkung. Man will da ja hin, aber dann ist man doch so gefangen in seinen Ängsten und Gedanken, die ja direkt mithochkommen. Da ist die Vorfreude gedämpft.“

Der 29-Jährige ist vom Hals abwärts gelähmt und bedient seinen Rollstuhl über die Schultermuskulatur seines linken Armes. Bei unbekannten Lokalen ruft auch er vorab an und versucht, die Gegebenheiten abzuklären. „Ich frage aber nicht mehr, ob ein Lokal barrierefrei ist. Sondern ich frage ganz konkret, ob da Stufen sind. Denn ich stand auch schon mal vor einem Lokal, das angeblich barrierefrei ist. Und bekam dann zu hören: ´Ach, sie meinten die drei Stufen? Da kann man Sie doch hochheben!´ Aber einen E-Rollstuhl von 200 Kilogramm mit mir drin hebt man nicht einfach hoch.“

Akribische Bildersuche

Studentin Jana Sohm recherchiert vorab akribisch, wie die Location aussieht.

Jana hat inzwischen detektivische Fähigkeiten entwickelt. Ihr Augenmerk gilt neben den Treppen auch den Tischen.

„In der Regel rufe ich vorher an. Oder ich schaue im Internet ganz genau, ob man erkennen kann, ob ich reinkomme. Ich bin mit einem Aktiv-Rollstuhl unterwegs und muss den Tisch gut unterfahren können. Moderne Tische haben manchmal eigenartige Unterbauten. Oder es stehen diese kleinen, niedrigen Tische rum, die gerade modern sind. Da wird es für mich auch schwierig“, sagt die Studentin.

„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man bei Google ganz gut sieht, wie das Restaurant oder das Café eingerichtet ist. Wenn ich verschiedene Restaurants zur Auswahl habe, dann entscheide ich mich für das, bei dem ich auf den Google-Bildern sehe, dass die Tische zu mir passen.“

Gedankenprozesse hemmen die Freude

Vincent versucht, mit Leuten, die er neu kennenlernt, offen über die Überlegungen zu sprechen, die ihn manchmal ausbremsen. Aber manches können Menschen, die nicht im Rollstuhl unterwegs sind, nicht nachvollziehen.

Auch deshalb hat den Physik-Studenten Svenjas Video so berührt. „Das hat so schön mit mir resoniert … so klar war mir das noch gar nicht gekommen. Meine Assistenten wissen das … die kennen diese ganze Gedankenprozesse, die die Freude hemmen. Aber Dritte wissen das natürlich nicht. Ich bin schon oft dabei, aber nicht so unbeschwert oder so oft, wie ich möchte. Natürlich versuche ich mit dem Mitmenschen zu kommunizieren, dass manche Sachen schwieriger sind. Aber ich habe noch nie jemanden so krass gesagt, dass intern eine Liste mitrattert.“

„Das ist ein Lernprozess“

Vorfreude mit angezogener Handbremse. Erst der Verstand und das Notwendige, dann das Vergnügen. Vermutlich kennen fast alle Menschen, die mit Querschnittlähmung leben, diesen inneren Mechanismus. So ist das Leben eben. Hart, und nicht immer fair. Man kann damit hadern. Oder man kann versuchen, zu akzeptieren, dass es so ist und das Beste aus dem Gegebenen machen.

„Das ist ein Lernprozess, wenn man ein paar Mal enttäuscht wurde und merkt, dass es doch nicht klappt, dann stellt man sich da um“, sagt Jana. „Es gibt Sachen, da kann man spontan sein, wenn man die Leute kennt, und die Locations kennt, und man weiß, wie man hinkommt. Aber bei neuen Dingen ist das immer sehr aufwendig. Ich hatte meinen Unfall mit 14. Ich bin damit groß geworden, bin daran gewöhnt, ich hatte es noch nie anders. Eine Belastung ist es trotzdem, auch wenn vieles bereits Routine geworden ist. Außerdem bin ich ohnehin ein sehr geplanter Mensch, anderen ist Spontanität sicherlich noch wichtiger.“


Wer mehr von Svenja Gluth hören und/oder lesen will, hat dazu auf ihren Social-Media-Kanälen Gelegenheit:


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