Für Rollstuhlfahrer: Forschungsprojekt zur Elektromobilität

Eigenständige Mobilität und Teilhabe im Alltag sowohl für Kinder als auch Erwachsene mit Körperbehinderung – das ist das Ziel des Projekts E-Handbikes, das unter Leitung von Prof. Dr.-Ing. Marc Siebert am Hansecampus Stade der Private Hochschule Göttingen (PFH) durchgeführt wird. Am Lehrstuhl Technologie der Faserverbundwerkstoffe wird dazu ein elektrisch angetriebenes, dreirädriges Handbike entwickelt.

„Handbike-Ergometer“, mit dem die optimale Sitzposition für ein elektrisch angetriebenes, dreirädriges Handbike simuliert werden kann. Mit dem E-Handbike soll Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen eine deutliche Steigerung der eigenständigen Mobilität und Teilhabe im Alltag ermöglicht werden, so das Ziel des Forschungsprojekts.

E-Bikes gehören mittlerweile zum Alltagsbild und erleben einen Boom. Allein im Jahre 2020 wurden 1,95 Millionen E-Bikes verkauft, laut des Zweirad-Industrie-Verbands waren das 43,4 Prozent mehr als im Jahre 2019. Die E-Bike-Technik soll jetzt auch Kindern und Erwachsenen mit körperlicher Behinderung mehr Mobilität im Alltag ermöglichen. „Voraussetzung für die selbständige Mobilität von Menschen mit Behinderungen sind Hilfsmittel beziehungsweise Fahrzeuge, die auf die Bedürfnisse der Nutzer:innen zugeschnitten sind“, erläutert Prof. Dr.-Ing. Marc Siebert. „Zu den täglichen Lebensbegleitern für querschnittsgelähmte Menschen zählt der Rollstuhl. Jedoch sind Reichweite und Umfang eigenständiger Mobilität im Rollstuhl bauartbedingt deutlich begrenzt, man denke hier nur an gemulchte Flächen auf Kinderspielplätzen, mit Schnee bedeckte Wege oder gar einen Strand“, so Siebert.

Elektromobilität in der Rehabilitationstechnik

Das Forschungsteam um Prof. Siebert entwickelt jetzt ein spezielles dreirädriges Fahrzeug, ein sogenanntes „Handbike“, das mit einem elektrischen Antrieb ausgestattet wird. So soll Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen eine deutliche Steigerung der eigenständigen Mobilität und Teilhabe im Alltag ermöglicht werden. Das auf zwei Jahre angelegte Projekt „EMOB-REHA“ (Elektromobilität in der Rehabilitationstechnik) wurde im Januar 2020 gestartet und wird vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gefördert.

Vom Sportgerät zum Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung

Handbikes sind vergleichbar mit einem Fahrrad oder Liegerad, werden aber allein durch die Arme angetrieben. Bekannt wurden diese Spezialfahrzeuge durch ihren erstmaligen Einsatz bei den Sommer-Paralympics 2004 in Athen. Momentan findet man die technisch am weitesten entwickelten Handbikes jedoch fast ausschließlich im Straßenrad- bzw. Straßenrennsport. Dabei handelt es sich zumeist um nicht-elektrisch-unterstützte, reine Sportgeräte mit geringer Alltagstauglichkeit. „Das Innovationspotenzial unseres neuartigen Lösungsansatzes „EMOB-REHA“ besteht darin, ein Fahrzeugkonzept für körperlich behinderte Menschen zu entwickeln, welches das gleichzeitige Steuern und Antreiben zulässt, über eine elektrische Unterstützung verfügt, einen kleinen Wendekreis hat, über eine gute Traktion verfügt und Reifenbreiten zulässt, die auch ein Befahren von losem Untergrund, im Extremfall von Sand in Strandbereich, ermöglichen“, erläutert Siebert. Ein leichter Ein- und Ausstieg durch z. B. eine wegschwenkbare Lenksäule sowie eine leicht erhöhte Sitzposition, sollen durch den neuartigen Lösungsansatz ebenfalls umgesetzt werden.

Mehr Mobilität für Kinder dank mitwachsende E-Handbikes

Eine weitere Besonderheit des „EMOB-REHA“-Projekts ist, dass – im Gegensatz zu bisherigen Ansätzen – einer möglichst großen Gruppe körperlich behinderter Menschen und insbesondere auch Kindern die Handbike-Nutzung ermöglicht werden soll. „Das wollen wir auch unter Anwendung einer modularen Plattformstrategie erreichen, ähnlich der Vorgehensweise im Automobilbereich“, sagt Prof. Siebert. „Basierend auf einem Basisrahmen-Konzept wollen wir so sowohl ein Alltags-Handbike, ähnlich einem Trekking- bzw. Cityrad, als auch ein High-End-Sportgerät ableiten können.“

Handbike-Ergometer und Scan-Messzelle entwickelt

Zur Projekthalbzeit stellt das Forschungsteam jetzt die dafür entwickelte und angefertigte Simulationseinrichtung, das sogenannte „Handbike-Ergometer“ vor, das die stufenlose – und damit behinderungsgerechte – Positionierung von Probanden relativ zum Antrieb ermöglicht. Dank einer ebenfalls neu entwickelten mobilen Scan-Messzelle, die eine barrierefreie und berührungslose Erfassung biometrischer Daten erlaubt, lassen sich digitale Daten direkt erfassen. Hierbei können Kinder ab dem achten Lebensjahr mit einer Körperlänge von 130cm bis hin zu Erwachsenen mit einer Körperlänge über 200 cm berücksichtigt werden. Die Simulationseinrichtung wurde bereits an das Sanitätshaus Movimento in Kassel übergeben, weitere Partner sollen in Kürze folgen. „Mit dem Handbike-Ergometer können wir bereits im Vorfeld zusammen mit unseren Kunden die optimale Sitzposition simulieren und kommen der optimalen Versorgung wieder einen Schritt näher“, freut sich Julian Schulz, Orthopädietechnik-Mechaniker mit Schwerpunkt Rehatechnik bei der Movimento Orthopädie & Rehatechnik GmbH. Spezialgebiet des Orthopädie- und Rehatechnik-Hauses, das Standorte in Kassel und Göttingen hat, ist die Versorgung von Kindern. Die gewonnenen Daten wird das Forschungsteam um Marc Siebert nutzen, um das E-Handbike technisch umzusetzen.

Der Durchführungszeitraum des Projekts war vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2021.

Im August 2022 liegen die Ergebnisse vor:

Das Innovationspotenzial besteht laut Projektleiter Prof. Dr.-Ing. Marc Siebert darin, dass das Handbike das gleichzeitige Steuern und Antreiben zulässt sowie neben der elektrischen Unterstützung auch über einen kleinen Wendekreis und eine gute Traktion verfügt, sodass auch ein Befahren von losem Untergrund möglich ist. Damit wird einer möglichst großen Gruppe körperlich behinderter Menschen, Erwachsenen und Kindern gleichermaßen, die Nutzung eines Handbikes ermöglicht. „Das wollen wir auch unter Anwendung einer modularen Plattformstrategie erreichen, die u. a. dadurch gekennzeichnet ist, dass Schnittstellen geschaffen werden, mit der handelsübliche Serienkomponenten aus dem Fahrradbereich verwendet werden können“, sagt Siebert. Basierend auf einem Basisrahmen-Konzept können so sowohl ein Alltags-Handbike, ähnlich einem Trekking- bzw. Cityrad, als auch ein High-End-Sportgerät realisiert werden.

Beteiligt waren an dem Projekt Studierende des 5. Semesters des Bachelorstudiengangs „Verbundwerkstoffe/Composites“, die im Rahmen der Vorlesung „Fertigungsverfahren für Faserverbundstrukturen (FVT)“ ein verstellbares Sitzsystem für das Handbike entwickelten. „Das Ziel der Vorlesung mit den Projekten besteht darin, die Studierenden den entscheidenden Schritt aus der konzeptionellen Phase hin zur realen Umsetzung und Fertigung physikalischer Prototypen vollziehen zu lassen“, erläutert Siebert. Zudem sei es für ihn ein Test gewesen, ob Studierende dieses Semesters bereits an Forschungsprojekten erfolgreich mitarbeiten können. Und den sollten sie bestehen: „Das Ergebnis kann sich sehen lassen, das Sitzsystem wurde erfolgreich in Leichtbauweise umgesetzt und verfügt über alle erforderlichen Verstellbereiche zur individuellen Anpassung“, betont Siebert. „Für Fünftsemester ist das eine Top-Arbeit“, sagt der Ingenieur über das mit Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) geförderte Projekt, das das Team vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Dezember 2021 durchführte.

Lösung für Groß und Klein

Laut Siebert sind klassische Handbikes sehr tief, würden Rollstuhlfahrer:innen durch aufwendiges Auf- und Absteigen und die notwendige Unterstützung von Begleitpersonen nicht selten die Lust am Fahren vermiesen. Angebote für Kinder seien besonders rar. Und selbst Profisportler:innen blieb vor Jahren – mangels elektrischen Antriebes – der Wunsch, die Alpen per Handbike zu erklimmen verwehrt. Beim entwickelten Handbike würden die Rollstuhlfahrer:innen von einer wegschwenkbaren Lenksäule sowie einer leicht erhöhten Sitzposition profitieren. „Wir kommen mit einem Rahmen aus“, freut sich Siebert zudem über die praktikable Lösung für Groß und Klein. Durch geschicktes Ausnutzen der Verstellbereiche kann das E‑Handbike von Personen mit einer Körpergröße zwischen 1,30 und 1,85 Metern genutzt werden. Auch für die Kostenträger ein interessanter Aspekt, findet Siebert. „Da das Bike mitwächst, ist es eine langfristige Investition.“ Eine Fahrt im tiefen, losen Sand am Strand? Auch das sei dank FAT-Bereifung kein Problem. Die gute Geländegängigkeit habe sich auch bei Tests auf Gras, Waldboden und steilen Bergauffahrten bestätigt.

Da das Bike das gleichzeitige Antreiben (Kurbeltrieb) und Steuern (Fahrtrichtungswechsel) zulassen sollte, wurde auf einem zuvor entwickelten Handbike-Ergometer ermittelt, welcher Schwenkbereich der Antriebskurbel – subjektiv – noch als angenehm bzw. sinnvoll hinsichtlich des gleichzeitigen Antreibens und Einlenkens empfunden wird. Siebert war es wichtig, den Proband:innen so wenig Einweisung wie möglich zu geben, sondern sie intuitiv handeln zu lassen. „Ich hatte mehr zu meckern als die Testfahrer:innen“, gibt er mit einem Augenzwinkern zu. Mit dem Ergebnis, „einem erträglich kleinen Wendekreis“, seien aber schließlich alle zufrieden gewesen. Beim Selbstversuch stellte Siebert zudem fest: Das Bike kommt an. Nicht nur bei den Nutzer:innen selbst, sondern auch bei Außenstehenden. „Wie cool ist das denn?“, hieß es, als er seinen Sohn mit dem Bike, inklusive Mountainbike-Stollenreifen, von der Schule abholte. „Nicht nur Menschen mit Behinderungen – wir alle können das Bike nutzen“, schlussfolgert Siebert. Ein großer Schritt Richtung Mobilität, Selbstständigkeit, Teilhabe und Inklusion.

Für Groß und Klein, Jung und Alt, Alltag oder Offroad – Ziel des Projektteams war es, eine möglichst große Nutzergruppe anzusprechen, und das zu einem erschwinglichen Preis. Wer mehr will, setzt auf ein High-End-Modell und nimmt zusätzliche Optionen wie Reifendrucksensoren und Sturzsensoren in Anspruch. Ein Radarsystem erkennt Fahrzeuge, die sich nähern. Für Siebert nicht nur eine nette Spielerei, sondern ein wichtiger Sicherheitsaspekt für die schnell zu übersehende „Rennflunder“ auf der Straße. Transportiert werden kann das Bike mittels eines Anhängekupplungsträgers, so wie es auch für konventionelle Fahrräder üblich ist.

Noch handelt es sich bei dem E‑Handbike um einen Prototyp. Optimierungsbedarf sieht Siebert beispielsweise beim Sitzsystem. Für die bislang verwendete und selbst entwickelte Seilzuglenkung gebe es keine Zukauflösungen. Das soll der Umstieg auf eine Zahnriemenlenkung ändern.

Für bereits verfügbare Hand- und Liegebike-Modelle siehe: Handbikes: Varianten von Extrem bis Hybrid


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