Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Menschen mit Rückenmarkverletzung: Risiken individuell betrachten
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Sterblichkeit bei Rückenmarkverletzten doppelt bis fünffach höher liegt als bei der Durchschnittsbevölkerung. Andere Studien machen die Sterblichkeit von der Schwere der Rückenmarkverletzung abhängig: Am höchsten ist sie bei Tetraplegie. Warum ist das so und was ist zu tun? Dr. Assem Aweimer, Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie, nennt die wichtigsten Risikofaktoren – und Gegenstrategien.

Als wäre es nicht schon schwierig genug, als Mensch mit Paraplegie den Alltag mit den bekannten und lästigen körperlichen Einschränkungen zu bewältigen, gibt es leider auch Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System.
Das sind die unmittelbar nach der Rückenmarkverletzung entstandenen Komplikationen am Herzen oder an den Gefäßen wie etwa eine tiefe Beinvenenthrombose (Gerinnselbildung in den Beingefäßen), eine Lungenarterienembolie (Gerinnselbildung in den Lungengefäßen) oder ein Herzstillstand mit Schrittmacherpflichtigkeit. Andererseits bestehen auch langfristige Risiken, die zu einer chronischen Gefäßerkrankung mit Kalkablagerungen führen – bis zum Herzinfarkt oder Schlaganfall.
In der Akutphase
Die wichtigste und unmittelbarste Komplikation nach einer Rückenmarkverletzung ist das komplett außer Kontrolle geratene autonome Nervensystem (reguliert unbewusst lebenswichtige Grundfunktionen), welches zu akuten lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen mit einem verlangsamten Herzschlag bis hin zum Herzstillstand führen kann.
Weiterhin kann die Blutdruckregulation so weit gestört sein, dass die Gefäße sich zu sehr erweitern – mit einem daraus resultierenden zu niedrigen Blutdruck. Diese Ausprägungen nach einem plötzlich entstandenen, unfallbedingten Schaden am Rückenmark fasst der Begriff ,,spinaler Schock‘‘ zusammen. In der Regel hält dieser Zustand mehrere Stunden bis zu mehreren Tagen (oder auch Wochen) an. (Siehe auch Beitrag Der neurogene Schock bei Querschnittlähmung.)
Hier gilt: Je höher die Läsion am Rückenmark lokalisiert ist, desto heftiger und langandauernder sind die oben genannten Ausprägungen. So ist es keine Seltenheit, dass Verletzte im Bereich der Halswirbelsäule häufiger einen Herzstillstand erfahren und mit einem Herzschrittmacher versorgt werden.
Neben der Einschränkung des autonomen Nervensystems ist in dieser Phase die Immobilisierung ein großer Risikofaktor für Komplikationen im Krankenhaus. Allein durch die reduzierte Mobilität von Rückenmarkverletzten besteht zusätzlich zur krankenhausbedingten Ruhigstellung von Extremitäten, etwa nach Operationen, ein erhöhtes Risiko für Gerinnselbildungen.
Zum Autor
Dr. Assem Aweimer ist Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie und am BG Universitätsklinikum Bergmannsheil Bochum als Oberarzt im Schwerpunkt Rhythmologie (Erkennung und Behandlung von Herzrhythmusstörungen) tätig. Einer seiner Forschungsschwerpunkte in Kooperation mit der Abteilung für Rückenmarkverletzte sind Herzrhythmusstörungen bei Menschen mit Querschnittlähmung.
Beinvenenthrombosen
Thrombosen entstehen gerne an Stellen im Körper, an denen der Blutfluss reduziert ist. Um das in den Beingefäßen (Venen) befindliche Blut zurück in Richtung Herz zu transportieren, benötigen wir unsere Beinmuskulatur, die durch das Zusammenziehen Druck auf die Venen ausüben. Kommt es zu einem Ausfall dieser Muskel-Venen-Pumpe ist die Folge ein deutlich herabgesetzter Blutfluss mit der erhöhten Gefahr der Bildung von Thrombosen; und genau diese gefährliche Konstellation ist bei Rückenmarkverletzten gegeben. Denn durch Ausfall der motorischen Funktionen der unteren Extremitäten kommt es bei bis zur Hälfte aller Rückenmarkverletzten zu Beinvenenthrombosen. Ein Teil der Thrombosen bleibt oftmals unentdeckt.
Da das Risiko einer Beinvenenthrombose grundsätzlich bei Rückenmarkverletzten im Krankenhaus erhöht ist, erhalten alle Patientinnen und Patienten eine sogenannte Thromboseprophylaxe (spezieller Blutverdünner in reduzierter Dosierung).
Die Beinvenenthrombose kann sehr gut durch spezielle Kompressionsstrümpfe und eine blutverdünnende Therapie behandelt werden. Oberstes Ziel ist es, ein Wachstum und vor allem ein Mobilwerden (Embolie) der Gerinnsel zu verhindern. Denn wenn es zu einer Embolie in den Lungengefäßen kommt (Lungenarterienembolie), kann sich ein lebensbedrohlicher Zustand entwickeln. Circa fünf Prozent aller Rückenmarkverletzten im Krankenhaus leiden daran. (Siehe auch Beitrag Thrombose bei Querschnittlähmung: Entstehung, Risikofaktoren, Prophylaxe)
Herz und Gefäße
In der Regel vier bis sechs Wochen nach Schädigung des Rückenmarks kommt es zu einer Stabilisierung der Nervenleitungen des autonomen Nervensystems. Das bedeutet, dass es abhängig von der Lokalisation der Schädigung zu chronischen Einwirkungen auf Herz und Gefäße kommen kann.
Hierbei wird eine Schädigung im Bereich der mittleren Brustwirbelsäule (Th7-12), wie sie bei Paraplegikern typischerweise vorkommt, häufig von dem Phänomen einer überschießenden herz- und gefäßaktivierenden Wirkung auf das autonome Nervensystem begleitet. Das führt zu einem beschleunigten Herzschlag sowie einer vornehmlich gefäßverengenden Wirkung der unteren Extremitäten; das Ergebnis sind Blutdruckentgleisungen mit zu hohem Blutdruck.
In Ultraschalluntersuchungen der unteren Extremitäten konnte man sogar strukturelle Veränderungen der Arterien der Beine nachweisen. Die Arterien sind im Vergleich zu Normalbefunden deutlich enger und häufiger verkalkt. Die genaue Ursache hierfür ist nicht geklärt. Eine fehlende Erregung durch die gestörten Nervenleitungen einerseits und andererseits eine milde chronische Entzündung, die weitestgehend unbemerkt verläuft, könnten vermutlich eine Rolle spielen.
Der Blutdruck
Bei Tetraplegie ist das weniger ausgeprägt, denn durch die höhere Lokalisation der Verletzung im Rückenmark kommt es auch – durch das veränderte autonome Nervensystem – eher zu niedrigeren Blutdrücken. Deshalb wundert es nicht, dass das Risiko, einen Bluthochdruck zu entwickeln, für Paraplegiker im Vergleich zu Tetraplegikern um das Vierfache erhöht ist. Und bekanntlich ist der Bluthochdruck neben dem Diabetes mellitus, dem Zigarettenrauchen und den Veränderungen des Fettstoffwechsels (inklusive der Fettleibigkeit) ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung von Herzinfarkten oder Schlaganfällen.
Weitere Risikofaktoren
Der Bewegungsmangel, der eine Folge der Grunderkrankung ist, begünstigt einige der oben genannten Risikofaktoren. Körperliche Aktivität ist ein wichtiger Aspekt in der Vorbeugung (siehe auch Beitrag Stefan Lange über Sport und Gesundheit bei Querschnittlähmung). Es verwundert nicht, dass bei Rückenmarkverletzten ein erhöhtes Risiko für ein Diabetes mellitus besteht. Je nach Studie variiert das Risiko von 30 bis zu 50 Prozent im Vergleich zur Normalbevölkerung. Auffällig ist, dass Tetraplegiker stärker betroffen sind als Paraplegiker. Man vermutet die Ursache in einer reduzierten Insulinwirkung der Zellen vermittelt durch die Veränderungen des autonomen Nervensystems und die bessere Mobilisierung bei Paraplegie.
Bezogen auf den Risikofaktor Fettstoffwechsel zeigte sich in einer schwedischen Studie bei Rückenmarkverletzten im Alter über 50 Jahren, bei denen die Verletzung mindestens 10 Jahre zurücklag, bei drei Viertel aller Betroffenen ein krankhaft veränderter Fettstoffwechsel mit erhöhten Cholesterin-Werten und bei zwei Drittel aller Betroffenen bestand ein Übergewicht.
Fazit
Menschen mit Rückenmarkverletzungen haben ein nicht unerhebliches Risiko für die Entwicklung von Herzkreislauferkrankungen, die am Ende leider zu einer erhöhten Sterblichkeit führen. Es ist wichtig, dass man die Risikofaktoren erkennt und sie früh und adäquat behandelt.
Eine umfassende Bewertung der Risikofaktoren für Herzkreislauferkrankungen sollte bei jedem Rückenmarkverletzten individuell erfolgen. Dann lassen sich passgenaue Strategien für körperliche Aktivitäten entwickeln. Eine individuelle Ernährungsberatung für Rückenmarkverletzte kann ebenfalls hilfreich sein, um das Körpergewicht und die Cholesterin-Werte besser in den Griff zu bekommen (siehe auch Beitrag Beratungszentrum für Ernährung und Verdauung Querschnittgelähmter).
Der Text von Dr. Aweimer wurde in Ausgabe 3/2023 der Zeitschrift „Der Paraplegiker“ erstveröffentlicht. Die Redaktion von Der-Querschnitt.de bedankt sich herzlich für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung.

