Leben mit Querschnittlähmung: „Der Zirkus ist meine Welt“

Silke Pan stürzte vor 16 Jahren vom Trapez und glaubte nicht, dass sie als Paraplegikerin noch einmal in die Manege zurückkehren würde. Aber genau das hat sie geschafft: Die Frau aus Aigle ist wieder als Artistin unterwegs. Peter Birrer sprach mit der Ausnahme-Artistin.

Zurück in der Manege: Die querschnittgelähmte Artistin bei einer Nummer im Handstand

Ein Mittwoch im September fernab des Zentrums von Aigle. Didier Dvorak verstaut Material im Auto und im Wohnwagen, während Silke Pan einen Stock höher zu tun hat und sich trotz bevorstehender Abreise Zeit für ein ausführliches Gespräch nimmt.

Silke Pan ist Künstlerin, nicht irgendeine, sondern eine, die im Zirkus eine Handstandnummer aufführt – als Paraplegikerin. Die deutsch-schweizerische Doppelbürgerin weilt mit ihrem Mann Didier von Ende September bis Mitte Dezember in Mailand, wo sie beim Gravity Circus engagiert ist. Danach verbringt das Duo mehrere Wochen in Berlin beim Circus Roncalli. Die Vorfreude auf das Zirkusleben und die Manege ist enorm.

Peter Birrer: Silke Pan, nach deinem Unfall 2007 hast du deine Zirkusrequisiten verschenkt …

Silke Pan: … ja, ich gab alles weg. In den ersten Monaten meiner Rehabilitation in Nottwil musste ich wegen des Schädel-Hirn-Traumas drei Monate im Bett liegen und durfte mich nicht bewegen. Aber ich hatte den Traum, wieder als Artistin auftreten zu können. Ich hatte ja nicht so viel Ahnung, was Querschnittlähmung wirklich bedeutet. Aber nach etwa einem halben Jahr musste ich feststellen: Das geht nicht.

Peter Birrer: Wie hast du das realisiert?

Silke Pan: Ich wollte das, was ich mir gedanklich zurechtgelegt hatte, in der Turnhalle ausprobieren, im Beisein eines Physiotherapeuten. Ich wollte herausfinden, was ich noch kann. Ich dachte, vielleicht klappt es ja mit dem Handstand, aber nichts ging, nichts! Nicht einmal eine halbe Drehung wollte mir gelingen. Das frustrierte mich ziemlich. Mir fehlte jegliches Feingefühl für meinen Körper.

Peter Birrer: Und darum hast du einen vermeintlichen Schlussstrich gezogen.

Silke Pan: Genau. Ich liebte zwar die Artistik, den Zirkus, das Tanzen und Turnen. Aber das würde nie mehr möglich sein, darum trennte ich mich von allem, was mich allein beim Anblick an den schönen Alltag vor dem Unfall erinnerte. Ich wollte die Vergangenheit ruhen lassen und ein neues Leben mit anderen Zielen beginnen.

Artistin mit Leib und Seele

Peter Birrer: Aber die Geschichte nahm eine Wende: Aus dir ist wieder eine Artistin geworden. Was steckt dahinter? Du warst ja eine erfolgreiche Handbikerin.

Silke Pan: Dass ich mit dem Leistungssport aufhörte, hat nicht zuletzt mit der Coronapandemie zu tun. Viele Wettkämpfe fielen aus, ich trainierte daheim und entdeckte zufällig, dass ich wieder in der Lage war, den Handstand zu machen.

Peter Birrer: Wieso zufällig?

Silke Pan: Gedanklich hatte ich mit der Artistik ja abgeschlossen, aber Krafttraining machte ich weiterhin. Irgendwann fing ich an, neue Übungen zu machen und probierte einfach einmal, ob mir der Handstand gelingt. Offensichtlich hatte ich durch den Handbikesport eine gewisse Robustheit und physische Stärke erlangt – jedenfalls spürte ich, dass ich über einige Kraft verfügte.

Peter Birrer: Wie muss man sich das vorstellen: eine querschnittgelähmte Frau im Handstand?

Silke Pan: Ich lag der Länge nach auf einem Snowboard, mein Mann band meine Beine daran fest, was mir Stabilität gab. Dann hob er mich in die Senkrechte. In dieser Position winkelte ich die Arme an und streckte sie wieder – so funktionierte das Krafttraining. Es ist, als würde man Liegestützen machen, einfach senkrecht. Meine Oberarme erinnerten sich daran, wie man das Gleichgewicht hält, und ich empfand ein unglaubliches Glücksgefühl. Ich hatte das nicht mehr für möglich gehalten. Nach so vielen Jahren brachte ich es fertig, mich eine Minute im Handstand zu halten. Danach weinte ich vor Freude. Es war wie …

Peter Birrer: … die Neugeburt einer Artistin?

Silke Pan: Ja, das kann man so sagen. Plötzlich sah ich doch wieder eine Chance, ein Leben als Künstlerin zu führen. Ich fühlte mich so frei, weil ich mit meinem Körper ohne den Rollstuhl etwas anfangen konnte. Fortan trainierte ich jeden Tag neben den Einheiten mit dem Handbike, und ich probierte laufend neue Techniken aus – ich musste es irgendwie hinkriegen, ohne das Snowboard in den Handstand zu gelangen. Einmal versuchte ich es, indem ich meine angewinkelten Beine ganz fest an den Oberkörper band und sah dadurch aus wie eine Kugel. Ich schaffte es, allein mein Becken hochzudrücken. Aber das erforderte ungemein viel Übung.

Peter Birrer: War für dich klar, dass du zurück in die Zirkusmanege willst?

Silke Pan: Ich hatte die leise Hoffnung, dass daraus etwas entstehen würde. Im Wissen natürlich, dass noch ganz viel Arbeit vor mir lag. Ich hatte das Glück, relativ schnell Fortschritte zu machen. Das nährte meine Zuversicht, in die Manege zurückzukehren.

Peter Birrer: Trotzdem bist du dem Leistungssport bis zum Ende der Saison 2021 treu geblieben. (Mehr zu Silke Pans sportlichen Erfolgen im Beitrag Extremsportlerin Silke Pan: „Wenn ein Ereignis meinen Lebensweg kreuzt, dann habe ich sicher auch die Kraft, das durchzuziehen!“)

Silke Pan: Ich konnte nicht früher zurücktreten, weil ich verschiedenen Verpflichtungen nachkommen musste, etwa den Sponsoren gegenüber. Und ich war immer noch im Nationalkader. Aber der Trainer hatte keine Freude, als ich ihm sagte, dass ich mit dem Sport aufhöre. Er traute mir zu, dass ich mich für die Paralympics 2024 in Paris qua­lifizieren würde. Aber ich hatte einen anderen Plan. (Schmunzelt.)

Eine Stange fixiert die Beine

Peter Birrer: Wie kam es zum ersten Engagement im Zirkus?

Silke Pan: 2020 postete ich Fotos auf Facebook und wollte einfach meine Freude teilen. Der Direktor des Zirkus Helvetia sah die Bilder, rief mich an und sagte, er wolle mich verpflichten. Das gab mir einen Kick – sein Anruf stärkte meinen Glauben an mich. Ich fing an, an einer etwa zehnminütigen Zirkusnummer zu arbeiten. Im Dezember 2021, gut drei Monate nach dem Rücktritt vom Sport, erlebte ich in Moudon die Premiere.

Peter Birrer: Gab es im Vorfeld Zweifel? Oder gar Ängste davor, wie das Publikum reagieren würde?

Silke Pan: Vor dem ersten Auftritt hatte ich heftiges Lampenfieber. Ich wusste ja nicht, wie das ankommen und ob ich es schaffen würde, meine Leidenschaft rüberzubringen. Mein Anspruch war auch der, dass meine Darbietung ein hohes Niveau erreicht. Ich wollte meiner Leistungsfähigkeit von früher wieder so nahe wie möglich kommen.

Peter Birrer: Wie reagierten die Zuschauerinnen und Zuschauer?

Silke Pan: Sehr positiv. Ich bekam für meine Solo-Handstandnummer tosenden Beifall bei der Premiere und auch den Aufführungen danach. Das Ganze wurde ein riesiger Erfolg.

Peter Birrer: Was bedeutet dir Applaus?

Silke Pan: Sehr viel. Das zeigt mir, dass ich das Richtige mache und das, was ich einstudiert habe, gut rüberbringe. Ich kommuniziere nonverbal mit dem Publikum. Wichtig sind auch Eleganz und Ästhetik. Der Zirkus ist meine Welt, ich fühle mich da zuhause. Der Leistungssport war gut, keine Frage, er gab meinem Leben einen wichtigen Inhalt und ermöglichte mir, mich mit meinem Körper nach dem Unfall wieder vertraut zu machen. Aber in meiner Seele blieb ich immer Artistin, das ist das, was mich am meisten erfüllt.

Peter Birrer: Was ist das Faszinierende daran?

Silke Pan: Für mich ist es die Kombination aus physischer Topleistung und Kreativität. Ich will mit der Inszenierung dem Publikum etwas erzählen.

Kreative körperliche Höchstleistung
 

Peter Birrer: Welche Botschaft vermittelst du?

Silke Pan: Es ist im Grunde ein Ausschnitt aus meinem Leben. Ich schaue aus dem Rollstuhl zum Trapez, das in luftiger Höhe baumelt, dann schaue ich auf meine Beine runter. In dem Moment kommt mein Mann in die Manege, hilft mir aus dem Rollstuhl, setzt mich auf das Podest und bringt mir eine Stange, an der ich meine Beine fixiere. Das symbolisiert: Ich bekomme mein Leben zurück – von meinem Mann, der wie ein Schutzengel auftritt und Lebenskraft verkörpert. Dann beginnt die eigentliche Num­mer. Die Botschaft soll die sein: Ich bin gestürzt, das Leben war quasi fertig, aber ich habe die innerliche Kraft gefunden, um – im übertragenen Sinn – wieder aufzustehen. Und am Ende laufe ich auf Handstelzen. Das bedeutet: Ich habe einen neuen Weg gefunden, um selbstständig wieder voranzukommen.

Peter Birrer: Ist der Zirkus barrierefrei?

Silke Pan: Nein. Nur schon das Sägemehl in der Manege ist eine Herausforderung. Oder wenn es regnet, muss ich vor dem Auftritt immer zuerst noch den Rollstuhl putzen, der auf dem Weg vom Wohnwagen zum Zirkuszelt dreckig geworden ist. Aber wir finden immer eine Lösung. Die Leute, mit denen ich zu tun habe, sind extrem hilfsbereit. Ich muss mich einfach bemerkbar machen, weil ich merke, dass viele Leute immer noch gewisse Hemmungen im Umgang mit Menschen im Rollstuhl haben. Es ist halt auch so: Menschen mit einer Behinderung sind im Zirkus eine Seltenheit, darum wird auf Barrierefreiheit nicht so geachtet.

Peter Birrer: Ärgert dich das manchmal?

Silke Pan: Als ich Sportlerin war, ärgerte ich mich ab und zu – beispielsweise dann, wenn ich am Abend vor einem Wettkampf in ein Hotel kam, von dem es hieß, es sei rollstuhlgängig. Aber dann kam ich nicht mal durch die Toilettentür. Ich glaube, viele Leute sind sich gar nicht bewusst, was barrierefrei überhaupt bedeutet. Diesen Ärger spüre ich heute nicht mehr, weil ich auch nicht mehr den Stress der Athletin habe. Wenn ich ein Hotel buche und man mir versichert, es sei barrierefrei, stelle ich mich trotzdem auf kleinere Hürden ein, weil es die immer gibt. Ich passe mich an.

Dreamteam Silke und Didier

Peter Birrer: Der Wohnwagen, in dem du und dein Mann während des Engagements im Zirkus leben, ist auch nicht frei von Hürden.

Silke Pan: Nein. Wenn ich mich in den Wohnwagen zurückziehe, lasse ich den Rollstuhl draußen, weil dafür drinnen überhaupt kein Platz ist. Ich transferiere mich auf ein Kissen im Wohnwagen und bewege mich rutschend am Boden fort. Alles, was ich benötige, ist in den unteren Schränken verstaut. Mein Mann und ich wohnen auf engstem Raum und verbringen auch sonst die meiste Zeit miteinander. Das setzt natürlich voraus, dass wir uns gut verstehen. Spannungen gibt es selten, und wenn es welche gibt, beheben wir sie schnell.

Peter Birrer: Nun trittst du seit Anfang Oktober beim Gravity Circus in Mailand auf. Verfügst du über endlose Energiereserven?

Silke Pan: An vier Tagen pro Woche zeige ich in jeweils zwei Vorstellungen meine Darbietung. Natürlich kostet das viel Energie, aber früher hatte ich während einer Saison praktisch gar nie einen Tag frei. Ich lernte, die kurze Regenerationszeit effizient zu nutzen. Und wieder in der Manege sein zu dürfen, setzt Kräfte in mir frei. Ich habe das Glück, sehr fit und erfahren zu sein. Ich weiß, wie das Zirkusgeschäft funktioniert. Ein paar Jahre möchte ich schon noch dabeibleiben.

Peter Birrer: Du machst einen sehr zufriedenen, ja glücklichen Eindruck.

Silke Pan: Der Eindruck täuscht nicht. Ich fühle mich im Einklang mit mir selbst, kann mich entfalten und bin innerlich richtig glücklich. Im Leistungssport musste ich mich an strikte Pläne halten, so etwas wie künstlerische Freiheit gab es nicht. Auch was die Kleidung anging, durfte ich nicht tragen, worauf ich gerade Lust hatte, es war ja auch wichtig, die Sponsorenlogos zeigen zu können. Es gab Regeln, und an die hielt ich mich. Aber diesen Abschnitt habe ich beendet.

Peter Birrer: Ist dein aktuelles Leben wieder dasselbe wie vor dem Unfall?

Silke Pan: Es ist ähnlich. Wenn ich ein Engagement in einem Zirkus bekomme, bin ich mit meinem Mann unterwegs, und unser Zuhause ist in dieser Zeit der Wohnwagen. Wir sind Teil einer großen Familie aus Künstlerinnen und Künstlern. Durch meine Behinderung kann ich zwar zum Beispiel nicht mehr beim Aufbau mithelfen, aber was ich nicht schaffe, übernimmt mein Mann. Wir sind ein eingespieltes Duo. Und ich habe das Glück, unkompliziert und flexibel zu sein.

Peter Birrer: Bist du perfektionistisch veranlagt?

Silke Pan: Bei der Arbeit ja. Das war im Sport schon so, selbst nach einem gewonnenen Rennen setzte ich mich selbstkritisch mit meiner Leistung auseinander. Nach einer Vorstellung im Zirkus weiß ich immer, was ich das nächste Mal besser machen könnte. Aber den Perfektionismus im Alltag habe ich abgelegt, das macht einen nur verrückt. Wir leben mit einem Hund, sind oft in der freien Natur. Es gibt immer mal wieder Hundehaare auf dem Fußboden bei uns, solche Dinge halt – das nehme ich inzwischen ganz gelassen.

Unter anderem auf ihrem Youtube-Kanal zeigt Pan Einblicke in ihr artistisches Können. Hier eine Kostprobe:

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

PHA+PGlmcmFtZSBsb2FkaW5nPSJsYXp5IiB3aWR0aD0iMTAwJSIgaGVpZ2h0PSIzMTUiIHNyYz0iaHR0cHM6Ly93d3cueW91dHViZS1ub2Nvb2tpZS5jb20vZW1iZWQvLTFSZmFqZllfdk0/c2k9dC1PNDZsNTNqblhJUDBLaCIgdGl0bGU9IllvdVR1YmUgdmlkZW8gcGxheWVyIiBmcmFtZWJvcmRlcj0iMCIgYWxsb3c9ImFjY2VsZXJvbWV0ZXI7IGF1dG9wbGF5OyBjbGlwYm9hcmQtd3JpdGU7IGVuY3J5cHRlZC1tZWRpYTsgZ3lyb3Njb3BlOyBwaWN0dXJlLWluLXBpY3R1cmU7IHdlYi1zaGFyZSIgYWxsb3dmdWxsc2NyZWVuPSIiPjwvaWZyYW1lPjwvcD4=

Das Interview wurde in Ausgabe 4/2023 von paracontact, der Mitgliederzeitschrift der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung erstveröffentlicht. Der-Querschnitt.de bedankt sich ganz herzlich bei Silke Pan, Peter Birrer und der paracontact-Redaktion für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung!


Die Beiträge, die in der Kategorie „Erfahrungen“ veröffentlicht werden, schildern ganz persönliche Strategien, Tipps und Erlebnisse von Menschen mit Querschnittlähmung. Sie stellen keine Empfehlung der Redaktion dar und spiegeln nicht die Meinung der Redaktion wider. Wer auch gerne auf Der-Querschnitt.de Erfahrungen teilen möchte, wendet sich bitte an die Redaktion. Siehe: Ihre Erfahrungen helfen anderen.