Leben mit Querschnittlähmung: Im 7,5-Tonner nach Tadschikistan

2022 machte sich Paraplegiker Jakob Raithel gemeinsam mit seiner Frau zu einer 13-monatigen Reise durch Zentralasien auf. Das Gefährt seiner Wahl: ein ehemaliger Feuerwehr-LKW, den er eigenhändig für seine Bedürfnisse umgebaut hatte.

Jakob Raithel ist Maschinenbauingenieur (47) und lebt seit 1992 mit einer unfallbedingten Querschnittlähmung mit einer Läsionshöhe von Th 8/9. Seine Sehnsucht danach zu entdecken, was hinter dem Horizont liegt und seine Leidenschaft für schwere Fahrzeuge entdeckte er schon früh. 2004 kaufte er, sozusagen als Einstiegsdroge, als Teil einer dreiköpfigen Haltergemeinschaft ein Wohnmobil, welches auf Vancouver-Island in British Columbia – Canada stationiert war. Von dort aus fuhr er über mehrere Jahre, jeweils für einige Wochen im Sommer durch Kanada und Alaska, allerdings „nur“ als Beifahrer, da das Fahrzeug nicht über entsprechende Umbauten verfügte. 

Das Fahrzeug

2005 kaufte Raithel dann in Deutschland einen weiteren sog. Kurzhauber, einen Mercedes-Benz LA 1113, Baujahr 1965, und passte ihn selbst an seine Bedürfnisse an. Die Handsteuerung ist selbstkonstruiert – von der Stange gibt es so etwas für solch unübliche Fahrzeuge nämlich gar nicht.

Über die Jahre verpasse Raithel dem Fahrzeug diverse Technische „Upgrades“ wie ein neues anders übersetztes Getriebe, einen neuen „modernisierten“ Motor, Stoßdämpfer ringsum, etc..

Hinter der Fahrerkabine gibt es einen neuen Kastenaufbau, der genug Platz bietet für ein Bett, eine Kochnische, eine Duschwanne mit integrierter Toilette. Geheizt wird mit einer Wasserstandheizung, die von einem Brenner unter der Motorhaube versorgt wird. Der Einstieg erfolgt über einen ebenfalls selbst konstruierten und in der eigenen Werkstatt umgesetzten elektrohydraulischen Lift.

Damit ist das Fahrzeug noch immer nicht zu hundert Prozent barrierefrei. „An die Schränke ganz oben kommt nur meine Frau“, sagt Raithel. „Und auch, was das Reserverad angeht, muss meine Frau helfen. Das ist nämlich auf dem Dach. Aber ich kann mit dem Fahrzeug so auch ganz alleine unterwegs sein. Das war mir bei Planung und Umsetzung wichtig.“

Das Abenteuer

Obwohl die Idee, eine lange Reise zu unternehmen, unter dem Namen „Agenda 2010“ schon lange im Raum stand, machten sich Raithel und seine Frau nach vielen berufs-, krankheits- und schließlich auch pandemiebedingten Rückschlägen erst im März 2022 los in Richtung Balkan.

Den ursprünglichen Plan, die Seidenstraße bis in die Mongolei zu fahren, verwarfen Raithel und seine Frau; sie fuhren von Deutschland über Österreich, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina Montenegro, Albanien, Griechenland und die Türkei nach Georgien, wo sie sich mit Freunden trafen um gemeinsam zwei Monate zu verbringen.

„Ausgewiesene Campingplätze gibt es ab der Türkei wenige. Dafür ist Camping fast überall total in Ordnung, was ja nochmal ganz andere Freiheiten eröffnet“, freut sich Raithel. „Und obwohl es eigentlich gar nicht mehr konkret auf dem Plan gestanden hatte, beantragten wir jetzt doch noch ein Visum für Russland und machten uns im Herbst 2022 auf durch Russland nach Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan.“

Hier begann das eigentliche Abenteuer: „Die Straßen sind teilweise ein Desaster. Man hangelt sich auf einigen Teilstrecken mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 15 km/h von Schlagloch zu Schlagloch durch. In Kasachstan und Tajikistan gibt wenig touristisch erschlossene Orte. Usbekistan hingegen ist touristisch erschlossen und wunderschön. In Usbekistan sind die Städte Xiva, Buchara und Samarkand diejenigen, welche aussehen wie aus 1001 Nacht. Hier trafen wir auch auf den Aralsee, oder besser gesagt die Aral-Wüste, die früher mal der Aralsee war. Ein einheimischer Dokumentarfilm zur Geschichte des Aralsees hätte uns hier sehr interessiert, aber grade, als wir dort waren, fiel im Museum der Strom aus und blieb den ganzen Tag weg.“

Von dort aus ging es nach Tadschikistan, u. a. zu einem Besuch bei Freunden, aber auch zur Erkundung des Hindukuschs. „Wir fuhren die Straße entlang dem Fluss „Pandsch“, welcher entlang der tadjikisch-afgahnischen Grenze und entlang dem Hindukusch führt. Wir fuhren auf der tadschikischen Seite, auf der anderen Seite des Flusses liegt Afghanistan und die Bergkette gemeinhin bekannt als Hindukusch. Unmittelbar hinter den Gipfeln liegt dann schon Pakistan. Das Leben hier ist ein völlig anderes als das, was wir kennen. Wir haben Menschen gesehen, die mit Ochsengespannen ihre Felder pflügten. Und Frauen, welche im Fluss Teppiche und Wäsche wuschen.“

Bis hierher war die Reise zwar nicht immer ohne Probleme verlaufen, doch aber immer mit solchen, die man lösen hatte können. Doch dann waren Raithel und seine Frau Anfang Dezember 23 mit einem Verteilergetriebeschaden sechs Wochen in Kasachstan in der Nähe von Baikonur gestrandet, bis über eBay und eine Spedition das entsprechende Ersatzteil herangeschafft werden konnte. All das, unangenehmer weise bei Temperaturen die jenseits des Wohlfühlbereichs lagen. „Über Nacht setzte der Winter ein. Als wir abends schlafen gingen, war es noch relativ mild und morgens dann: blauer Himmel und Sonnenschein bei minus 10 Grad tagsüber sowie minus 20 Grad in der Nacht. Und das blieb dann so…“

Nachdem der LKW endlich wieder flott war, fuhr das globetrottende Ehepaar im Januar 2023 über Dagestan im Nordkaukasus vorbei an gefrorenen Wasserfällen über die Türkei, Griechenland und Italien wieder in Richtung Heimat.

Mobilität und Barrierefreiheit

Barrierefreiheit wird in vielen der Länder, in denen Raithel unterwegs war, nicht gerade großgeschrieben. Die Frage stellte sich für Raithel aber auch nie wirklich. „Barrierefreiheit ist ja vor allem dann wichtig, wenn man auf rollstuhlgerechte Hotels oder rollstuhlgerechte Transportmittel angewiesen ist. Ich brauchte beides nicht. In meinem rollstuhlgerechten Transportmittel hatte ich das rollstuhlgerechte Bad, Bett und Küche ja immer dabei. Und einkaufen ging meine Frau alleine, wenn es nicht anders ging.“ Ein Handbike für Raithel und ein Fahrrad für seine Frau waren auch mit an Bord. „Nur waren die beiden leider so verstaut, dass es ein gewisser Aufwand war, sie da rauszuholen. Deshalb haben wir sie nur selten benutzt, meistens in Städten wie Batumi oder Taschkent.“

Das Blasenmanagement

Wenn man sich auf eine lange Reise begibt, in Länder, in denen es nicht an jeder Ecke ein Sanitätshaus gibt, tut man gut daran sich mit Kathetern für das tägliche Blasenmanagement einzudecken. In einem 7,5 Tonner ist zum Glück genug Stauraum vorhanden. Einen Jahresvorrat an Katheter hatte Raithel im Gepäck. „Wenn man im LKW unterwegs ist, geht das.“

Auf die Frage nach etwaigen Harnwegsinfektionen reagiert Raithel gelassen: „Klar gab es die. Aber die kann man kriegen, ob man zuhause ist oder unterwegs. Da sucht man sich einen Arzt, lässt sich Antibiotika verschreiben, und gut ist. In vielen dieser Länder kann man solche Medikamente auch einfach frei in der Apotheke kaufen“

Das Darmmanagement

Natürlich können die Einnahme von Antibiotika und ungewohnte Lebensmittel unerwünschte Auswirkungen auf das Verdauungssystem haben – was bei einer neurogenen Darmfunktionsstörung ja nochmal etwas unangenehmer ist.

„In der Türkei hat es mit die Verdauung zerlegt. Da habe ich mich dann sechs Wochen lang nur von geriebenem Apfel mit Haferflocken und Reis mit gekochten Möhren ernährt. Leider eine deutliche Einschränkung in Sachen gemeinsames Reiseerlebnis, bei dem, zumindest für uns, Kulinarisches eine große Rolle spielt. Ansonsten funktioniert das Darmmanagement genauso wie zuhause. Beliebt sind in Campern ja oft die Komposttoiletten/Trockentrenntoilette. Da darf dann aber auch wirklich keine Feuchtigkeit reinkommen. Stattdessen haben wir in der Dusche ein Wasserklosett nach demselben System, das auch auf z. B. Yachten genutzt wird. Diese Konfiguration der Nasszelle hat sich für meine Bedürfnisse auf jeden Fall sehr bewährt.“

An Bord hat Raithel einen Wassertank mit einem Fassungsvermögen von 200 Litern und zwei Abwassertanks für Grau- und Schwarzwasser mit je ca. 70 Litern, die an bestimmten Ablassstellen entsorgt werden können. Auch der Frischwassertank kann an bestimmten Stellen oder an Frischwasserquellen aufgefüllt werden. Vor möglichen Verunreinigungen fürchtet sich Raithel nicht, da das Druckwassersystem im Wohnmobil über einen 3 stufigen Brunnenwasserfilter verfügt.

Darüber hinaus können dem Trinkwasser im Zweifelsfall Silberionen (Micropur) hinzugefügt werden, welche die keimfreiheit sicherstellen. „In den 13 Monaten sind wir vom Wasser nie krank geworden!“

„Auch ansonsten hatte ich zum Glück keine gesundheitlichen Probleme auf der Reise, von der einen oder anderen „Grippe“ mal abgesehen. Wir haben es langsam angehen lassen, haben uns keinen Stress gemacht. Auch Druckstellen hatte ich keine. Bis ganz zum Ende hin, als eine Verletzung am Gesäß einfach nicht heilen wollte.“

Die Rolle der Querschnittlähmung auf Reisen

Regeln zum Nachteilsausgleich bei touristischen Zielen, wie in Deutschland, gibt es nicht, oder waren Raithel und seiner Frau nicht bekannt. Raithel hat diese auch keinesfalls erwartet. „Wieso sollte ich davon ausgehen, dass es in anderen Ländern solche Vergünstigungen gibt wie zuhause? Etwa, dass meine Frau als meine Begleitperson umsonst an einer Besichtigung teilnehmen kann. Ich habe den Eintritt gerne bezahlt. Jeder Cent sei den Leuten dort gegönnt. Tatsächlich war es aber oft so, dass wir einfach durchgewunken wurden. Überall sind wir freundlichen, aufgeschlossen, hilfsbereiten Menschen begegnet. Das war eine sehr positive Erfahrung.“

Eventuell ist diese Freundlichkeit gegeben, weil die gesellschaftlichen Strukturen sie einfordert. „In Zentralasien gelten andere Regeln“ erzählt Raithel. „Ein Sozialwesen gibt es vermutlich überhaupt nicht. Wenn du als Mensch mit Behinderung nicht von deiner Familie unterstützt wirst, dann bist du buchstäblich auf die Freundlichkeit von Fremden angewiesen. Dass es woanders – ich war ja ganz offensichtlich Ausländer – nicht so sein könnte, wissen die Menschen vor Ort nicht. Und wenn ich dann vor einem Laden stand, in dem meine Frau war, in den ich aber z. B. wegen Stufen nicht rein konnte – dann kam es schonmal vor, dass mir jemand Geld schenkte. Kleine Beträge, aber für die Menschen dort bestimmt Summen, die sie selber gut hätten gebrauchen können. Aber ablehnen darf man nicht! Auf gar keinen Fall! Damit kann man jemanden schrecklich beleidigen. Wir haben es dann so gelöst, dass ich das Geld angenommen und mich bedankt habe. Und dann haben wir einen Menschen gesucht, der wirklich arm dran war und haben es weiterverschenkt und noch was draufgelegt. So haben wir für uns das moralische Dilemma aufgelöst. Irgendwann ist mir dann aber aufgegangen, dass mir niemand etwas schenken wollte, solange ich in Bewegung blieb. Deshalb rollte ich dann immer die Straße rauf und runter, bis meine Frau fertig war mit dem Einkaufen.“

Nachhaltig bewegt hat Raithel, dass er mitunter an den ärmsten Orten der Welt unterwegs war. „Aufgefallen ist mir, dass in den ärmsten Gegenden am wenigsten Müll rumliegt. Dies liegt zum einen daran, dass die Wegwerfkultur dort nicht so ausgeprägt ist. Die Menschen verwenden wieder, was sie haben. Zum anderen dient Müll als Brennstoff zum Heizen.“

Wanderlust to come…

Raithel wäre jederzeit bereit auf eine weite große Reise zu gehen, wenn sowohl Gesundheit als auch Finanzen – mit ca. 2.000 Euro pro Monat für zwei Personen im Wohnmobil außerhalb Europas muss man rechnen – mitspielten. Und seine Frau. „Ein ganzes Jahr lang, möchte sie nicht mehr reisen. Aber für ein paar Monate, wäre das schon noch denkbar“, sagt Raithel, der seinen umgebauten 7,5-Tonner noch nicht verkauft hat.

Menschen mit Querschnittlähmung, die auch die Wanderlust gepackt hat, sagt er: „Man muss schon der Typ dazu sein. Ständig unterwegs zu sein, ohne viel Komfort – das ist langfristig nicht für jeden was. Aber man muss ja nicht gleich in die Vollen gehen. Einen Allrad-LKW muss man nicht unbedingt umzubauen – ein Bulli oder ein Wohnmobil gehen auch. Es kommt schon drauf an, wo man hin möchte, aber selbst wir – und wir waren ja wirklich teilweise abseits von befestigten Straßen und Mitten im kältesten Winter – haben den Allradantrieb aber auf den insgesamt gefahrenen 35.000 Kilometern für vielleicht 20 Kilometer gebracht. Es war schon beruhigend zu wissen, dass er da ist. Ohne hätten wir uns wohl den einen oder anderen Ausflug auf extrem schlechten Wegen oder bis auf den Strand rauf verkniffen – aber im Großen und Ganzen ist eine solche reise absolut auch ohne Allradantrieb möglich.“

Wann und ob er sich wieder hinters Steuer schwingen wird, weiß Raithel derzeit noch nicht. Er und seine Frau möchten vorerst wieder im neuen Job und im neuem Zuhause ankommen. Was die Zukunft bringt, bleibt abzuwarten. Fest steht: Der Horizont wird nicht aufhören zu locken.


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