Leben mit Querschnittlähmung: Raus aus der Ohnmacht, rein in eine aktive Rolle
Wenn es einen Satz gibt, den Bruno Janßen sehr oft in seinem Leben gehört hat, dann ist es der Satz: „Das können Sie mit Ihrer Querschnittlähmung nicht.“ Und wenn es einen Satz gibt, den Janßen in seinem Leben mit Querschnittlähmung sehr erfolgreich ignoriert und widerlegt hat, dann ist es ebenfalls dieser Satz.

Mit 17 hatte ihm ein Mofa-Unfall auf dem Schulweg einen Strich durch nahe und ferne Zukunftspläne gemacht: Statt in Jahrgangsstufe 11 im Klassenzimmer zu sitzen, verbrachte er neun Monate in der Bochumer Klinik Bergmannsheil auf Station C2, der Abteilung für Rückenmarkverletzte. Die Hoffnung, dass er mit seiner inkompletten Querschnittlähmung zumindest wieder an Krücken würde laufen können, hatte sich nicht bewahrheitet.

Und nun? Das Abitur schien in weite Ferne gerückt. 1979 waren Schulen noch alles andere als rollstuhlgerecht. Aber „geht nicht“, war schon damals nicht seine erste Option (abgesehen von der eigenen Mobilität): Der Jahrgangsstufenleiter wurde völlig unbürokratisch aktiv. Die Kurse, an denen Bruno teilnahm, wurden in Klassenzimmer im Erdgeschoss verlegt, in der Schülertoilette einfach aus zwei Kabinen eine große Behindertentoilette gebaut. Fertig.
Scham und Angst
Die Schule war bereit für Bruno. Aber Bruno war noch nicht bereit für die Schule. In einer Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Schule hat er vor einigen Jahren seine Ängste vor der Rückkehr in den normalen Alltag sehr eindringlich geschildert: „Als ich dann das erste Mal mit dem Taxi zur Schule gebracht wurde, hatte ich ungeheure Angst vor der ersten Begegnung mit meinen alten Schulkameraden. Am liebsten wäre ich in diesem Moment im Boden versunken, so schämte ich mich für meine Behinderung. Im Bergmannsheil unter „meinesgleichen“ war alles schon fast normal gewesen. Worüber sollte ich denn reden, es war alles so fürchterlich peinlich und traurig.“
Aber bald legte sich die Verkrampfung auf beiden Seiten und der Schulalltag, Brunos Leben mit Querschnittlähmung, konnte weitergehen. Wenn Bruno wegen Dekubitus im Bett bleiben musste, wurden manchmal sogar Stunden bei ihm zu Hause abgehalten. „Diese Situation ist mir im Nachhinein noch oft durch den Kopf gegangen. Ich finde, sie macht sehr deutlich, dass die Voraussetzungen für eine gelungene Integration* weniger in den perfekten technischen Voraussetzungen (denn die waren damals wirklich nicht optimal) als vielmehr in der geistigen Flexibilität und der Solidarität von Schülern und Lehrern liegen. Es geht letztendlich darum, die „Behinderungen in den Köpfen“ aller Beteiligten abzubauen und dadurch wirkliche Begegnung möglich zu machen.“
Geht nicht. Geht nicht. Geht nicht.
Ja, die Behinderungen in den Köpfen. Auch sie prägen sein Leben mit Querschnittlähmung. Noch während der Schulzeit hatte Bruno einen Termin bei der Berufsberatung. Obwohl ihm eigentlich bereits klar war, dass er Biologie studieren wollte. Aber: „Lieber Herr Janßen, da muss ich Sie enttäuschen. Das geht nicht, die Gefahr ist zu groß, dass Ihnen Chemikalien über die Beine laufen.“ Bruno gab nicht auf, wandte sich an eine Berufsberatung für Akademiker – und siehe da: Seine Wunsch-Uni Bochum sah in seiner Querschnittlähmung nichts, was ihn vom Studium abhalten könnte. Mit dem Studium der Biologie und Geografie lief es gut in Theorie und Praxis: „Ich konnte sogar an allen Exkursionen teilnehmen“.
Nur der Berufswunsch änderte sich: Statt Diplom-Biologe wollte Janßen doch lieber Lehrer werden. Aber – Surprise! – eine halboffizielle Quelle bei der Bezirksregierung Düsseldorf riet davon ab: „Das geht nicht. Als Rollstuhlfahrer ist die Gefahr zu groß, dass Sie sich bei den Schülern keinen Respekt verschaffen können.“ Eine Einschätzung, der die Bezirksregierung Düsseldorf allerdings nach einer offiziellen schriftlichen Anfrage widersprach: Er könne sehr wohl Lehrer werden, aber eine Verbeamtung sei unter den gegebenen Umständen wohl nicht möglich. Eine Antwort, die sich im Nachhinein wiederum als Fehlinformation herausstellte. Weshalb Janßen seit nunmehr über 30 Jahren als verbeamteter Lehrer tätig ist – übrigens an der Schule, an der er auch sein Abitur gemacht hat.

„Für Percussion braucht man keine Beine!“
Vor dem Unfall hatte Bruno leidenschaftlich Schlagzeug gespielt – auch das ging nun nicht mehr. Dachte er. „Mein Schlagzeuglehrer sagte immer, dass ich den Fuß mitlaufen lassen muss, damit ich den Rhythmus spüren kann. Das ging ja jetzt nicht mehr“. Er gab das Schlagzeug auf – bis er ein Percussion-Konzert besuchte: „Ich fand das so cool, da lagen Flyer von einer Percussion-Schule herum, der Lehrer dort sagte: Warum nicht?“
Und so trommelt sich Janßen seither wieder durchs Leben: „Für Latin Percussion braucht man keine Beine“. Er hat eine berufsbegleitende Ausbildung zum Percussion-Lehrer gemacht und mit seiner Leidenschaft auch zahlreiche Schüler an seiner Schule angesteckt, die im schuleigenen Percussionensemble Konga Quings (siehe z.B. externer Link: Percussion Konga Quings » (adenauer-gymnasium.de) Percussions spielen.
Neue Aufgabe: Kommunalpolitik
Irgendwann wurde es Zeit für eine neue Aufgabe, die eigentlich nicht geht. Mit 58 Jahren hat Janßen sich deshalb ein neues Ziel gesteckt: Seine Heimat Kleve soll barrierefreier werden.
Er engagiert sich bei den Grünen und wurde direkt in den Stadtrat von Kleve gewählt: „Ich finde das superspannend. Ich bin meines Wissens der erste Rollifahrer im Stadtrat und habe die Möglichkeit, für meine Rechte einzutreten.“
Aber ganz so einfach fällt ihm das nicht: „Das berührt mich auch immer wieder, wenn ich darüber spreche. Dass das, was ich einfordere, Rechte sind und keine Almosen.“ Janßen hat schon einiges in seiner Heimatstadt bewirkt, bald wird es z.B. eine rollstuhlgerechte öffentliche Toilette und der Bahnhof soll barrierefreier gestaltet werden. Zudem hat er durch einen Ratsbeschluss auf den Weg gebracht, dass es in naher Zukunft ein taktiles Leitsystem in der Fußgängerzone geben wird.
Mehr Vernetzung bitte!
Janßen will jeden ermutigen, in der Kommunalpolitik mitzumischen. Sein Motto: „Lass dir nicht sagen, was nicht geht, sondern probiere es selbst aus.“
Seiner Erfahrung nach gibt es noch zu wenige Menschen mit Behinderung in der Kommunalpolitik – und die wenigen sind zu wenig vernetzt. Seine Vision ist es, z.B. auf der nächsten rehacare Düsseldorf entsprechende Workshops anzubieten und so Kommunalpolitiker mit Behinderung zu vernetzen.
Aktiv werden
Derzeit kämpft er dafür, dass endlich auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen die Schwanenburg besuchen können.

Immerhin ist sie das Wahrzeichen Kleves und auch der Sitz eines Museums sowie des Amts- und Landgerichts. Und da war er auch wieder, der Satz, der ihn durch sein Leben mit Querschnittlähmung begleitet: „Das geht nicht. Es ist unmöglich, dass man da mit dem Rollstuhl reinkommt.“ Ein Satz, den Janßen auch diesmal widerlegen will. Immerhin: In alten Plänen hat er bereits entdeckt, dass es auf der Burg einen alten Lastenaufzugschacht gibt. Ein Anfang ist gemacht.
2025 sind wieder Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen. Janßen will erneut antreten: „Ich kann nur jedem raten, falls er die Möglichkeit hat, so etwas zu machen. Man erfährt, dass man mitgestalten kann und kommt aus dieser Ohnmacht raus, rein in eine aktive Rolle!“
Wer Janßen und sein Engagement näher kennenlernen will, hat dazu unter anderem auf Instagram die Möglichkeit: Gruene_kleve.
*Anmerkung der Redaktion: Damals sprach man noch nicht von Inklusion, sondern von Integration. Was der Unterschied ist, schildert u.a. der Beitrag Inklusion vs. Integration – Der-Querschnitt.de.
Die Beiträge, die in der Kategorie „Erfahrungen“ veröffentlicht werden, schildern ganz persönliche Strategien, Tipps und Erlebnisse von Menschen mit Querschnittlähmung. Sie stellen keine Empfehlung der Redaktion dar und spiegeln nicht die Meinung der Redaktion wider. Wer auch gerne auf Der-Querschnitt.de Erfahrungen teilen möchte, wendet sich bitte an die Redaktion. Siehe: Ihre Erfahrungen helfen anderen.