Mit zwei digital kommunizierenden Implantaten: Gedankengesteuertes Gehen bei Querschnittlähmung möglich

Ein Team aus Wissenschaftlern an der EPFL (Ecole polytechnique fédérale de Lausanne) in der Schweiz haben mit einer „digitalen Brücke“ die Kommunikation zwischen Gehirn und Rückenmark eines querschnittgelähmten Mannes ermöglicht und so seine Gehfähigkeit bedingt wiederhergestellt. 

„Wir haben eine digitale Schnittstelle zwischen dem Gehirn und dem Rückenmark mit Hilfe der Brain-Computer-Interface-Technologie (BCI) geschaffen, die das Denken in Handeln umwandelt“, erklärt Grégoire Courtine, Professor für Neurowissenschaften an der EPFL. Diese Schnittstelle besteht aus zwei Implantaten, einem im Gehirn und einem im Rückenmark, die digital, d. h. kabellos, miteinander kommunizieren.

Gehen mit Querschnittlähmung: Gert-Jan Oskam

Bei einem Fahrradunfall vor fast zwölf Jahren, zog sich der Niederländer Gert-Jan Oskam eine inkomplette Querschnittlähmung im oberen Brustwirbelbereich zu. Eine „digitale Brücke“, eine Schnittstelle zwischen Gehirn und Rückenmark, ermöglicht es ihm nun aber wieder zu stehen, mit einer Gehhilfe (über 100 Meter am Stück) zu gehen und sogar Treppen zu steigen.

Dieses zweiteilige Implantat ist das neueste Projekt eines Teams von Neurowissenschaftlern in der Schweiz, das seit langem an der Entwicklung von Gehirn-Maschine-Schnittstellen zur Überwindung von Lähmungen arbeitet. Das Projekt zielt darauf ab, das Gehirn über digitale Signale wieder mit den Muskeln zu verbinden, die durch eine Verletzung und damit die Unterbrechung von Rückenmarksnerven nicht mehr angesteuert werden können.

Oskam beschreibt die Verbesserung seiner Lebensqualität im Alltag: „Vor ein paar Monaten konnte ich zum ersten Mal nach über zehn Jahren wieder aufstehen und mit meinen Freunden ein Bier trinken. Das war ziemlich cool.“

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

PGlmcmFtZSB3aWR0aD0iMTAwJSIgaGVpZ2h0PSIzNjAiIHNyYz0iaHR0cHM6Ly93d3cueW91dHViZS1ub2Nvb2tpZS5jb20vZW1iZWQvb1F5elNaa29ZTTQiIHRpdGxlPSJZb3VUdWJlIHZpZGVvIHBsYXllciIgZnJhbWVib3JkZXI9IjAiIGFsbG93PSJhY2NlbGVyb21ldGVyOyBhdXRvcGxheTsgY2xpcGJvYXJkLXdyaXRlOyBlbmNyeXB0ZWQtbWVkaWE7IGd5cm9zY29wZTsgcGljdHVyZS1pbi1waWN0dXJlOyB3ZWItc2hhcmUiIGFsbG93ZnVsbHNjcmVlbj48L2lmcmFtZT4=

Die Methode ermöglicht zwar keine schnellen, gleichmäßigen Schritte, doch sorgt es für Bewegung, wo zuvor keine Bewegung möglich war. Oskam kann alleine durch den Gedanken an diese Aktionen aufstehen und gehen. Die Signale, die über das Gehirnimplantat an sein Gegenstück im Rückenmark gesendet werden, stimulieren die Muskeln, die zur Beugung von Hüfte, Knie und Knöchel benötigt werden.

Eine digitale Brücke mit zwei elektronischen Implantaten: eines im Gehirn, das andere im Rückenmark

Auch scheint das Implantat die neurologische Wiederherstellung von Funktionen zu fördern. Nach mehr als 40 Trainingssitzungen erlangte der inkomplett gelähmte Oskam wieder eine gewisse Kontrolle über seine Beine – selbst wenn das Gerät ausgeschaltet war. Courtine glaubt, dass die Wiederverbindung von Gehirn und Wirbelsäule zur Regeneration der Spinalnerven beiträgt und diese neu entstehenden Nervenverbindungen dem Patienten einen Teil der verlorenen Kontrolle zurückgibt.

Wiederherstellung der neurologischen Funktionen

Bislang wurde die Methode zwar nur an einer Person getestet, doch die Verantwortlichen erklären optimistisch, dass eine vergleichbare Strategie in Zukunft auch zur Wiederherstellung von Arm- und Handfunktionen eingesetzt werden könnte, auch wenn letzteres schwieriger ist, da sie komplexer sind als das Gehen. Sie fügen hinzu, dass die Implantate auch bei anderen klinischen Indikationen, wie z. B. bei Lähmungen infolge eines Schlaganfalls, eingesetzt werden könnte. Das niederländische Partner-Unternehmen Onward Medical hat von der Europäischen Kommission über den Europäischen Innovationsrat (EIC) Unterstützung erhalten, um eine kommerzielle Version der digitalen Brücke zu entwickeln, mit dem Ziel, die Technologie weltweit verfügbar zu machen.

Die Studie „Walking naturally after spinal cord injury using a brain-spine interface“ wurde im Mai 2023 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Trotz dieser erstaunlichen Erfolge ist die Methode bei Weitem noch keine „Heilung“ für Menschen mit Querschnittlähmung. Sie hat laut den Forschern keinen Einfluss auf andere Folgen einer Querschnittlähmung außer der Gehfähigkeit und auch den Rollstuhl kann sie (noch) nicht dauerhaft ersetzen.

Über die Entwicklungsschritte der Methode bis hin zu den beiden im Mai 2023 vorgestellten digitalen Implantaten berichtete Der-Querschnitt.de bereits hier:

Gehfähigkeit mit Gehirn- und Rückenmarksimplantaten wiederhergestellt – Der-Querschnitt.de

Neurotechnologie zur Behandlung von Querschnittlähmung – Der-Querschnitt.de

Dehnbares Neuroimplantat zur Behandlung von Rückenmarksverletzungen – Der-Querschnitt.de


Der-Querschnitt.de betreibt keine Forschung und entwickelt keine Produkte/Prototypen. Wer an der beschriebenen Methode oder den vorgestellten Prototypen Interesse hat, wendet sich bitte an die im Text genannten Einrichtungen.