Pflegende Angehörige: Füreinander da sein in Love-Love-Balance

Wenn Burnout eine Krankheit ist, die alle treffen kann, erscheint es zur Vorbeugung sinnvoll, eine „Life-Work-Balance“ anzustreben und sich von der Arbeit nicht auffressen zu lassen. Doch was, wenn eine Behinderung zu bewältigen ist? Im eigenen Leben, in dem von Eltern oder Kindern, in dem der Partnerin oder des Partners? Wo bleiben da pflegende Angehörige? Das Leben? Die Erholung? Dr. Reiner Braun über Aufgaben und Chancen von Angehörigen, die wie er Partner und damit zugleich häufig Assistent eines querschnittgelähmten Menschen sind.

Seit 37 Jahren ein Paar: Manuela Gücker-Braun und Dr. Reiner Braun

„Das Management Ihrer Querschnittlähmung ist ein Halbtagsjob“, sagte ein Psychologe zu meiner Frau, Manuela Gücker-Braun. Das war ein Schlüsselsatz. Seit 37 Jahren sind wir ein Paar, ich war damals 18. Als wir zusammenkamen, war sie bereits seit einigen Jahren querschnittgelähmt (C6). Vor 29 Jahren haben wir geheiratet.

Assistent in vielen Lebenslagen

Seitdem bin ich ihr Assistent in vielen Lebenslagen und habe einen nicht unerheblichen Teil der Pflege übernommen. Auch das ist ein Job, der mich Zeit und Lebensenergie kostet – diese Einsicht ist mir allerdings erst in den letzten Jahren zugewachsen.

Als ich jünger war, lief dieser Job irgendwie mit, zwar nie spannungs- und konfliktfrei, aber mehr oder weniger selbstverständlich. Doch die Arbeitsbelastung in Beruf und Pflege hat in demselben Maß zugenommen, wie meine Kräfte und meine Gesundheit geschwunden sind. Klar, wir kennen den Rat an querschnittgelähmte Menschen, nie den Partner bzw. die Partnerin für die Assistenz oder die Pflege einzusetzen. Aber das wäre bei uns finanziell nicht gegangen. Und wir hätten auch keinen „Urlaub zu dritt“ gewollt, zumal das Zusammenleben als Paar gerade in dieser wichtigen Zeit schon spannend und spannungsvoll genug ist, vor allem aber, weil wir die intensiven Begegnungen miteinander für unsere Partnerschaft nötig haben.

Was zeichnet den Alltag Pflegender Angehöriger aus?

In diesem Text schreibe ich die Pflegenden Angehörigen bewusst mit einem großen „P“, wie einen Amts- oder Ehrentitel. Denn Pflegende Angehörige verstehen sich immer als Pflegende, auch wenn sie im Moment vielleicht etwas anderes tun als ihren Angehörigen zu pflegen.

Ich kenne viele dieser Menschen – auch aus meinem beruflichen Umfeld als evangelischer Gemeindepfarrer. Einige Beobachtungen:

  • Sie verlieren mehr oder weniger viel Zeit für Freundschaften und persönlichen Ausgleich.
  • Sie kämpfen vielleicht mit Neid, wenn sie die Situation anderer anschauen, und mit Trauer um das, was mal war.
  • Sie erleben Stresssituationen, wenn berufliche und pflegerische Anforderungen kollidieren oder ein erträgliches Maß übersteigen.
  • Wenn sie mal eine Auszeit nehmen, dann ist das vielleicht mit einem schlechten Gewissen verbunden: „Darf ich für diese Zeit Abstand zur Behinderung gewinnen, wenn mein Angehöriger das nicht kann?“ – „Wie werde ich ihn oder sie nach meiner Auszeit vorfinden?“ – Und am Ende: „Wäre ich nicht doch besser zu Hause geblieben? Werde ich das noch einmal machen?“
  • Überhaupt plagen sie sich je nach Veranlagung mit Schuldgefühlen: „Werde ich meinem Angehörigen wirklich gerecht? Lasse ich ihm oder ihr die bestmögliche Pflege zukommen?“
  • Sie springen selbstverständlich ein, wenn Pflege-Profis absagen. Selbst eigene Krankheit hindert sie nicht daran, diesen „Job“ zu machen. Meist gibt es gar keine andere Lösung: Weil niemand sonst bereitsteht, weil die Verhinderungspflege schon „aufgebraucht“ ist oder weil die finanziellen Mittel fehlen, einen Pflegedienst zu beauftragen.
„Anstrengender, aber heilsamer Lernprozess“

Ein heilsamer Lernprozess

In den vergangenen Jahren haben wir als Paar vor allem begriffen, dass es bei der Querschnittlähmung nicht nur um die Behinderung meiner Frau geht, sondern dass es unsere Behinderung ist, die wir gemeinsam tragen und unser beider Leben in erheblichem Umfang bestimmt. Rückblickend wird mir klar, dass wir beide einen anstrengenden, aber heilsamen Lernprozess durchlaufen haben:

  • Wir haben uns mehr Hilfe von Pflege- bzw. Assistenzdiensten geholt und ein „privates“ Team zusammengestellt, das für mich einspringt.
  • Wir haben durch kinästhetische Begleitung zu neuen Routinen gefunden, die die Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes und mich entlasten, nicht zuletzt auch meine Frau.
  • Wir haben Abschied genommen von meiner Lehrtätigkeit an der Uni, als wir merkten, dass ich Freiräume brauchte.
  • Wir haben akzeptiert, dass ich in meinem Hauptberuf aufgrund meiner Aufgaben als Pflegender Angehöriger gelegentlich Abstriche machen muss, allerdings umgekehrt auch sehr davon profitiere.
  • Wir haben durch Hobbys für meinen Ausgleich gesorgt, wie Modelleisenbahn und Bogenschießen (beim Bogenschießen und Jonglieren bin ich ganz fokussiert und hochkonzentriert. Das ist ein toller Ausgleich).
  • Wir haben uns mit Schlafhygiene beschäftigt, um mit unseren Schlafstörungen gut umzugehen.
  • Wir haben uns damit abgefunden, dass an freien Tagen und in Urlaubszeiten die Konflikte vermehrt aufbrechen und dass alle besonderen Aktivitäten viel Planung brauchen – und manchmal ein zermürbendes Hin- und Herüberlegen, was denn wohl der beste Weg zur Verwirklichung wäre.
  • Wir haben verabredet, dass ich ein- bis zweimal im Jahr für einige Tage alleine in den Urlaub fahre, um auch mal nicht helfen zu müssen und körperlich wie psychisch zu neuen Kräften zu finden.
  • Wir haben erfahren, dass ich keinen Urlaub einreichen muss, sondern mich krankschreiben lassen kann, wenn meine Frau meine Unterstützung braucht, wie etwa beim Kfz-Fahrtraining.
  • Wir haben ein behinderungsgerechtes Fahrzeug anschaffen können, als mir das Übersetzen in ein normales nicht mehr möglich war. Meine Frau ist nun auch wieder eigenständig mobil, was mich sehr entlastet. Wir haben uns Hilfen geholt, wo wir alleine nicht klarkamen, etwa durch Supervision oder Gesprächstherapie.
  • Wir freuen uns, immer wieder gemeinsam in der Manfred-Sauer-Stiftung Lobbach zu sein, wo wir wertvolle Impulse bekommen und wunderbare Menschen kennenlernen, die in vergleichbaren Situationen sind.

In „Love-Love-Balance“ leben

Dank dieses Lernprozesses haben wir inzwischen trotz aller Belastung das Gefühl, in „Love-Love-Balance“ zu leben, ganz nach dem Motto: „Liebe deine Nächste wie dich selbst.“ Denn nur, wenn du gut für dich selbst sorgst, kannst du gut für andere da sein.

Meine Frau lebt nach demselben Motto, sodass ich das ganz große Glück habe: Sie hat immer auch ein Auge auf mich, nicht erst, seit ich selbst durch eine chronische Lungenerkrankung eingeschränkt bin. Sie ist nicht nur meine Geliebte, sondern auch meine beste Freundin und wertvollste Gesprächspartnerin.

Auszeit

Ein einziges Mal in all den Jahren hat unsere Krankenkasse meine Frau angeschrieben, um ihre Pflegenden Angehörigen zu einem Wochenende in eine Kurklinik einzuladen. Meine Frau legte großen Wert darauf, dass ich die Einladung annahm. Zur Begrüßung gab es ein opulentes Abendessen als Dankeschön, schon das hat mich bewegt.

Ein Psychologe sprach mit uns über den Umgang mit Druck und zeigte uns Entspannungsübungen: Progressive Muskelrelaxation. Wir konnten Nordic Walking ausprobieren. Es waren weniger als 48 Stunden, die mir aber nachhaltig gutgetan und zur „Love-Love-Balance“ und zur Burnout-Prophylaxe beigetragen haben. Gerne hätte ich mich mit Abstand ein zweites Mal zu einem solchen Seminar angemeldet; leider erfolgte eine solche Einladung nicht mehr.

Hilfsangebote

Seit einiger Zeit frage ich mich, wie es wohl anderen geht, die nicht so „verwöhnt“ werden. Für diesen Artikel habe ich ein wenig recherchiert und staunend einige Entdeckungen gemacht:

  • Unsere Krankenkasse bietet tatsächlich noch immer Pflegekurse an, allerdings digital über einen professionellen Dienstleister. Und dabei ist auch die Selbstfürsorge ein Thema.
  • Das Bundesfamilienministerium hat ein Pflegetelefon eingerichtet, das zwar nicht rund um die Uhr erreichbar ist, aber immerhin auch per Mail.
  • Das Müttergenesungswerk bietet Kuren für pflegende Angehörige an.
  • Pflegende Angehörige haben sich zu einer Interessenvertretung und Selbsthilfe zusammengeschlossen.
  • Der Verein „Samuel Koch und Freunde“ hat auch die „Hilfe für Helfer“ zum Ziel.

Wünsche

Wenn ich mir trotzdem etwas für unsere Zielgruppe wünschen dürfte:

  • Bei den regelmäßigen Beratungsgesprächen mit Pflegebedürftigen müsste auch die Situation von Pflegenden Angehörigen im Blick sein.
  • Pflegende Angehörige sollten in diesem Zusammenhang einen Fragebogen bekommen, bei dem die Beratenden wahrnehmen können, wie ihre Situation ist und wo Entlastung angeraten scheint. Allein das Interesse würde dem einen oder der anderen vermutlich schon guttun. Der Fragebogen könnte zur Selbstreflexion anleiten und auf Hilfsangebote hinweisen.
  • Über Angebote zur Entlastung und zur Burnout-Prävention sollten sie regelmäßig informiert werden.
  • Analog zur „Juleica“, die Vergünstigungen für Ehrenamtliche in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bietet, könnte es eine „Pfleca“ geben, eine Bonuskarte, die durch attraktive Preisnachlässe ermöglicht und motiviert, Kultur- und Sportangebote zu besuchen.

Wenn nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2021 mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland zu Hause überwiegend durch Angehörige versorgt worden sind, so ist deren Zahl ja auf jeden Fall deutlich größer und damit nicht unerheblich. Dass der Pflegenotstand beseitigt wird, ist nicht abzusehen, eher ist das Gegenteil zu erwarten. Daher, meine ich, lohnt jede Investition in die Zielgruppe der Pflegenden Angehörigen und alle Hilfen zu nachhaltiger Burnout-Vorbeugung. Die nachwachsenden Generationen werden sich daran orientieren, welche Erfahrungen ihre Eltern und Großeltern in einer entsprechenden Situation gemacht haben. Wo sie sehen, dass Menschen in „Love-Love-Balance“ füreinander da sind, wird es sie ebenfalls dazu motivieren.

Der Text von Dr. Reiner Braun wurde in Ausgabe 4/2023 der Zeitschrift „Der Paraplegiker“, dem Mitgliedermagazin der Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland e.V., erstveröffentlicht. Die Redaktion von Der-Querschnitt.de bedankt sich herzlich für die Zustimmung zur Zweitveröffentlichung.


Dieser Text wurde mit größter Sorgfalt recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben. Unter keinen Umständen ersetzt er jedoch eine rechtliche oder fachliche Prüfung des Einzelfalls durch eine juristische Fachperson oder Menschen mit Qualifikationen in den entsprechenden Fachbereichen, z.B. Steuerrecht, Verwaltung. Der-Querschnitt.de führt keine Rechtsberatung durch. Ob und in welchem Umfang private Krankenkassen die Kosten für Hilfsmittel, Therapien o.ä. übernehmen, ist individuell in der jeweiligen Police geregelt. Allgemeingültige Aussagen können daher nicht getroffen werden.