Statt Umbau: Die Vernunft sprach für den Umzug

Tetraplegiker Philipp Kutter aus Wädenswil kehrte nach der Rehabilitation in Nottwil nicht in sein Haus zurück. Die Familie entschloss sich schweren Herzens gegen einen Umbau und lebt nun in einer Mietwohnung. Das löste einige Emotionen aus.

Familienleben: Philipp Kutter hilft bei den Hausaufgaben

Beide stammen aus Wädenswil, beide sind seit Skiunfällen, die sich im Februar 2023 innert zehn Tagen ereigneten, Tetraplegiker. Und bei beiden stellte sich rasch auch die Frage: Wie sieht die künftige Wohnsituation aus? Die Ausgangslage war ähnlich, aber es ergaben sich zwei komplett verschiedene Lösungen.

Technik: Das Handy öffnet im neuen Zuhause die Türen

Roland Fässler konnte in sein mehrstöckiges Haus zurückkehren, nachdem es aufwendig umgebaut worden war (siehe externer Link: Paracontact Winterausgabe 2024). Philipp Kutter hingegen lebt heute mit seiner Familie in einer Mietwohnung in derselben Gemeinde. Nach Abschluss seiner Rehabilitation im Schweizer Paraplegiker-Zentrum kehrte er nicht mehr in seine vertrauten vier Wände zurück. Der Stadtpräsident von Wädenswil und Mitte-Nationalrat sagt: „So schmerzhaft es ist, nicht mehr am geliebten alten Ort leben zu können: Wir arrangieren uns. Und sind zufrieden.“

Der Ursprungsplan: Umbau. Im Haus bleiben

Ursprünglich war es allerdings nicht die Absicht, sich wohnlich neu zu orientieren. Im Gegenteil. Die Kutters lieben ihren Teil des Doppeleinfamilienhauses, fühlen sich wohl im Familienquartier und können sich nach dem Unfall nicht vorstellen, wegzuziehen. Mit aller Kraft, das ist die Idee, soll ein Umbau angestrengt werden – mag der Aufwand noch so gross sein.

Felix Schärer, Bereichsleiter des Zentrums für hindernisfreies Bauen der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (ZHB, externer Link), übernimmt die Projektleitung. Am 3. Mai 2023 findet die Wohnungsabklärung statt, im Beisein von Philipp Kutter, der auf den Tag genau drei Monate nach dem Unfall erstmals nach Wädenswil und in sein Haus zurückkehrt.

Felix Schärer macht sich ein detailliertes Bild und zeigt die Schwierigkeiten auf, die es bei baulichen Maßnahmen zu meistern gäbe. Da sind insgesamt vier Etagen mit kleiner Grundfläche, da sind enge Platzverhältnisse, und da sind am Ende einige Fragezeichen. Aber der Plan, den Umbau durchzuziehen, wird an diesem emotionalen Tag noch nicht verworfen. Philipp Kutters Frau Anja sagt: „Für uns war klar, dass wir in unserem Haus bleiben.“

„Wie wird das neue Leben sein?“

Eines Tages erhält sie aber den Anruf einer Bekannten, die in einer 4,5-Zimmer-Wohnung in der Nähe lebt und in ein kleines Appartement ziehen möchte. Sie habe gedacht, dass dieses großzügige Objekt allenfalls etwas für die Familie Kutter sei: rollstuhlgängiger Wohnraum, alles auf einer Fläche. Anja Kutter bedankt sich, lehnt gedanklich aber ab – und doch lässt ihr das Telefonat keine Ruhe.

„Wir können uns die Wohnung ja trotzdem mal anschauen“, sagt sie zu ihrem Mann. Das macht sie in Begleitung einer Freundin, beiden gefällt die Wohnung sehr. Die Türen sind breit genug für einen Elektrorollstuhl, ihr Mann käme sogar selbstständig in die Kinderzimmer. Bei aller Liebe und Verbundenheit zu ihrem Haus: Die Vernunft sagt, dass das für den Start in das neue Leben die bessere Lösung ist.

„In dieser Phase sahen wir uns mit unzähligen Herausforderungen konfrontiert. Und auf viele Fragen hatten wir keine Antwort: Wie wird das neue Leben sein? Wie meistern wir es? Was brauchen wir überhaupt?“, sagt Anja Kutter, „vielleicht finden wir das doch einfacher in einer Mietwohnung heraus, in der baulich bei Weitem nicht so viel gemacht werden muss wie im Haus.“ Sie zögern. Wägen ab. Und entschließen sich dann – schweren Herzens – dazu, umzuziehen.

Die Emotionen beim Auszug

Anja Kutter sitzt am Küchentisch und erzählt, was das mit ihr und den Kindern, aber natürlich auch mit ihrem Mann gemacht hat. „Der Umzug war ein rein rationaler Entscheid“, betont sie, „der große und sehr teure Umbau mit Vertikallift wäre zwar möglich gewesen. Für Philipp wäre die Situation aber auch danach nicht befriedigend gewesen. Der Bewegungsspielraum wäre klein geblieben.“

Zudem, fügt sie an, hätte sie selbst die Energie nicht aufgebracht, um alles gleichzeitig zu bewältigen, also: ihrem Mann Kraft zu geben, die Kinder in der Trauer zu begleiten und ihre eigene zu bewältigen, ihr Geschäft zu führen, den Wahlkampf ihres Mannes zu leiten und daneben auch noch den großen Umbau zu stemmen.

Am Tag, an dem sie ihr Zuhause verlassen, zieht es Anja Kutter nochmals „richtig den Boden unter den Füssen“ weg. So beschreibt sie ihre Gefühlswelt. „Für uns war unser Haus viel mehr als ein Dach über dem Kopf“, sagt sie, „es war unser Rückzugsort, der uns Geborgenheit und Schutz gab. Und es war der Ort, der unser altes, schönes Leben verkörperte.“

Auch das Bad ist auf die Bedürfnisse angepasst

In den ersten zwei Wochen nach dem Wegzug hätten sie und die zwei Töchter fast durchgehend geweint: „Durch den Unfall von Philipp hatten wir schon so viel verloren, jetzt wurde uns auch noch unser Zuhause genommen. Zudem wurde uns da nochmals richtig bewusst, dass es nie mehr so sein wird wie früher. Das hat uns das Herz zerrissen.“

Wenigstens bleibt Anja und Philipp Kutter erspart, dass die Mädchen die Schule wechseln müssen. Die neue Wohnung ist nicht weit vom alten Zuhause entfernt. Um dieses macht Anja bis heute einen Bogen. Zwar seien tolle Mieter gefunden worden, doch allein der Anblick des Grundstücks löse bei ihr Tränen aus. Und die kleinere Tochter frage auch jetzt noch: „Wann gehen wir wieder nach Hause?“ Philipp Kutter tut sich zwar ebenfalls nicht leicht, „aber es ist nicht ganz so heftig.“

Umfeldsteuerung über das Handy

Mitte August 2023 zieht Anja Kutter mit den zwei Kindern in die neue Wohnung. Ende Oktober ist das Quartett wieder komplett, als Philipp die Reha in Nottwil beendet hat. Er findet ein Zuhause mit verschiedenen Anpassungen vor. Das Badezimmer ist adaptiert, die Haustür ist ebenso automatisiert wie der Eingang zur Wohnung. Und die Umfeldsteuerung ist über das Handy möglich, von der Terrassentür über die Lichtschalter bis zum Fernseher. Und im Keller mietet Anja einen Bastelraum und macht daraus einen Therapieraum, in dem Philipp Kutter je zweimal wöchentlich eine Physio- und Ergotherapie absolviert. Gastrecht genießt dort jeweils einmal pro Woche auch Roland Fässler.

Felix Schärer vom ZHB hat sich nicht nur mit der Wohnung auseinandergesetzt, sondern auch mit Philipp Kutters Büro im Stadthaus Wädenswil. Das denkmalgeschützte Stadthaus verfügte bereits über einen Lift, sodass hauptsächlich umfangreiche Automationen, Schwellenanpassungen und Umweltkontrollsteuerungen am Arbeitsplatz umgesetzt wurden.

Philipp Kutter erweckt einen kämpferischen Eindruck: „Wir machen das Beste aus der Situation.“ Er hat sich daran gewöhnt, dass vieles mehr Zeit und eine sorgfältige Planung beansprucht. Spontane Aktionen im Alltag sind nicht mehr oder nur unter großer Anstrengung möglich. Die politischen Mandate empfindet er nicht als Belastung, sondern bereichernd: „Sie geben mir Energie. Es kam sogar schon vor, dass ich erst am Ende einer Sitzung wieder merkte: Ich sitze ja im Rollstuhl.“

Bei allen Vorteilen der Wohnung: Ist sie auch eine Dauerlösung? „Vorübergehend ändern wir nichts daran“, betont Anja Kutter, „obwohl es mir lieber wäre, näher am Zentrum von Wädenswil zu leben.“ Philipp Kutter nickt. Und signalisiert gleichzeitig, dass der Start in die Zukunft gelungen ist: „Ich fühle mich wohl.“


Der Text von Peter Birrer wurde erstmals in der Frühjahrsausgabe von (externer link) paracontact, dem Mitgliedermagazin der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung  veröffentlicht. Der-Querschnitt.de dankt dem Autor und der portraitierten Familie ganz herzlich für die Erlaubnis, Text und Fotos zweitveröffentlichen zu dürfen.


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