Was regeln Leitlinien, was regeln Richtlinien?
Menschen mit Querschnittlähmung haben aufgrund ihrer Behinderung häufig mit Ärzten, Therapeuten, aber auch Verwaltungsmitarbeitern zu tun. Diese Spezialisten orientieren sich bei ihrer Arbeit unter anderem an Leitlinien und Richtlinien. Was ist der Unterschied?

Richtlinien
Die Grundlage für Richtlinien sind Gesetze. Richtlinien werden von offiziellen Institutionen erlassen. ihre Einhaltung ist daher verpflichtend.
Man kennt sie aus unterschiedlichen Kontexten, zum Beispiel aus dem politischen Bereich, insbesondere aus dem EU-Recht. Dort legen Richtlinien Ziele fest, die die EU-Länder erreichen müssen. Wie sie das machen, ist Sache der einzelnen Länder.
Ein Beispiel für eine Richtlinie ist der Europäische Rechtsakt zur Barrierefreiheit (European accessibility act), in Deutschland bekannt als Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. (Siehe Beitrag Gesetz soll Barrierefreiheit in Deutschland und Europa stärken – Der-Querschnitt.de)
Daneben gibt es zahlreiche Verwaltungsrichtlinien, auch Verwaltungsvorschriften genannt, die innerhalb von Behörden für einheitliche und sachgerechte Ausführung von Gesetzen sorgen sollen. Zum Beispiel, wenn es um die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung geht, also um die konkrete Umsetzung von Gesetzen, die zum Beispiel im Sozialgesetzbuch IX zu finden sind. (Für mehr Informationen siehe Beitrag Von Assistenz bis Zusatzurlaub: Das steht in SGB IX – Der-Querschnitt.de.)
Für Menschen mit Querschnittlähmung relevant: Richtlinien im medizinischen Bereich
Im medizinischen Bereich gibt es ebenfalls zahlreiche Richtlinien, die in der Regel eine gesetzliche Grundlage haben. Sie werden von einem per Gesetz ermächtigtem Gremium, zum Beispiel dem G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) beschlossen und sind verbindlich. Alle Adressaten müssen die Richtlinien beachten.
Beispiele für Richtlinien:
- Hilfsmittel-Richtlinie: Hier geht es um beispielsweise um Rollstühle, Gehhilfen, Duschstühle oder adaptiertes Essbesteck. In der „Hilfsmittel-Richtlinie nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V“ (externer Link) regelt der G-BA verbindlich, welche medizinischen Hilfsmittel zur Sicherung einer „ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung“ (siehe auch externer Link: § 12 SGB 5 – Einzelnorm) der Versicherten in Deutschland zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden dürfen.
- Heilmittel-Richtlinie: Sie nennt im Heilmittelkatalog verordnungsfähige Maßnahmen, wie zum Beispiel Stimm-, Sprech-, Sprach-, Schlucktherapie oder auch physio- oder ergotherapeutische Maßnahmen. Auch die medizinische Fußpflege fällt in diesen Bereich. Die Richtlinie enthält zudem eine Diagnoseliste zum langfristigen Heilmittelbedarf. Und zu guter Letzt führt sie die Heilmittel auf, die nicht verordnungsfähig sind, also meist in die Kategorie Privat-Leistung fallen.
Die Richtlinie und Patienteninformationen stehen hier (externer Link) zum Download bereit: Heilmittel-Richtlinie – Gemeinsamer Bundesausschuss. - Arzneimittel-Richtlinie: Diese Richtlinie legt fest, welche Medikamente und Verbandstoffe Ärzte zu Lasten der Krankenkasse verschreiben dürfen. Sie regelt aber noch mehr, denn ihre Anlagen widmen sich – gerade auch für Menschen mit Querschnittlähmung wichtigen Medizinprodukt-Gruppen wie Verbandmittel und Mittel zur Wundbehandlung.
Die Richtlinie und ihre Anhänge stehen hier (externer Link) zum Download bereit: Arzneimittel-Richtlinie und Anlagen – Gemeinsamer Bundesausschuss
Leitlinien
Eine Leitlinie ist eine wissenschaftlich fundierte, aber rechtlich nicht bindende Empfehlung. Sie soll Ärzte, Therapeuten, aber auch Patienten bei der Suche nach einer angemessenen Behandlungsart unterstützen. Im Idealfall gibt es daher nicht nur eine Leitlinie, die als Fachtext für Experten formuliert ist, sondern parallel dazu auch eine Patientenleitlinie in einer für den Patienten verständlichen Sprache.
Ein Beispiel für eine Patientenleitlinie ist die Patientenleitlinie „Akute Querschnittlähmung: Was ist für Betroffene wichtig zu wissen?“ – Der-Querschnitt.de, die parallel zur S3-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der akuten Querschnittlähmung“ erschienen ist.
Aktueller Stand der Diagnose- und Therapiemöglichkeiten
Typischerweise erstellen Vertreter einzelner medizinischer Berufsgruppen, häufig organisiert in Medizinischen Fachgesellschaften, die Leitlinien. Mit ihrer Hilfe bilden sie den aktuellen Stand der medizinischen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten ab und gelten daher als ein wichtiges Instrument evidenzbasierten Medizin.
Der Anspruch, auf aktuellem Stand zu sein, bedeutet auch: Leitlinien haben ein „Verfallsdatum“. Sie müssen daher in regelmäßigen Abständen überprüft und neu formuliert werden. Ein Prozess, in den Erkenntnisse über neue Diagnosemethoden, Therapien und Arzneimittel mit einfließen.
Empfehlungen
Leitlinien sind Empfehlungen. Bei der Formulierung gibt es feine Nuancen, die bereits bei der Wortwahl darauf hinweisen, wie überzeugt die Verfasser der Leitlinie von einer Maßnahme sind. Die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) gibt dazu in ihrem Regelwerk einige Tipps: „Weiterhin sollten die Wortwahl für die Stärke einer Empfehlung und der angegebene Empfehlungsgrad übereinstimmen (z.B. „wir empfehlen“ oder „soll“ für eine starke Empfehlung und „wir schlagen vor“ oder „sollte“ für eine konditionale bzw. abgeschwächte Empfehlung; siehe Graduierung von Empfehlungen)“.
Wenn es um den Bereich Querschnittlähmung geht, können verschiedene Medizinische Fachgesellschaften bei der Formulierung von Leitlinien involviert sein. Einige Beispiele:
- DMGP (Deutschsprachige Medizinische Gesellschaft für Paraplegie e.V., externer Link)
- DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V., externer Link)
- DGNR (Deutsche Gesellschaft für Neurorehabilitation e.V., externer Link)
- DGOOC, (Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie e.V., externer Link)
- DGP (Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V., externer Link)
- DGU (Deutsche Gesellschaft für Urologie e.V., externer Link)
- DGP (Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft e.V., externer Link)
4 Entwicklungsstufen
Leitlinien haben vier Entwicklungsstufen. Je höher die Einstufung, desto sicherer und evaluierter ist die Aussagekraft:
- S1-Leitlinien: Handlungsempfehlungen von Expertengruppen.
- S2k-Leitlinien stammen aus der Feder eines Gremiums, das für das jewelige Fachgebiet repräsentativ ist. Basis der Empfehlungen ist eine strukturierte Konsensfindung.
- S2e-Leitlinien: Hier wurde das Wissen systematisch gesammelt. Es fehlt jedoch die strukturierte Konsensfindung.
- S3-Leitlinien: Die höchste Qualitätsstufe. Bei diesen Leitlinien wurde das Wissen nach klaren Vorgaben, zum Beispiel einer systematischen Literaturrecherche gesammelt und bewertet.
Alle obengenannten Leitlinien-Typen nennen die Methodik, mit deren Hilfe sie erstellt wurden und weisen auf mögliche Interessenkonflikte hin.
Soll die Leitlinie bei der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) erscheinen, muss sie zudem weitere Qualitätskriterien erfüllen. (Hinweis: Der Begriff „Leitlinie“ an sich ist nicht geschützt. Es gibt auch sogenannte Leitlinien, die keinen der oben genannten Standards erfüllen.)
In der Kategorie Leitlinien Archive – Der-Querschnitt.de werden viele Leitlinien vorgestellt, die für Menschen mit Querschnittlähmung, aber auch für Fachpersonen, die in diesem Bereich arbeiten, relevant sind.