Kontinenz- und Sexualtherapie in Australien: Patientenbesuch via Flieger oder Internet
Dr. Marita Heck lebt seit 20 Jahren in Australien. In Queensland betreut sie als Kontinenz- und Sexualtherapeutin Menschen mit Querschnittlähmung. Ihre Patienten leben weit verstreut auf einer Fläche von 2.500 auf 1.500 Kilometer. Um die Dimensionen zu verdeutlichen: Helsinki und Rom sind 2.200 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt, London und Warschau ca. 1.450 Kilometer.

Für das persönliche Patientengespräch setzt sie daher vor allem auf Video-Calls – für manche Routine-Visiten steigt sie aber auch ins Flugzeug. „Ich habe mir eine persönliche Grenze gesetzt: Das Auto nehme ich bis maximal 3 Stunden Anfahrt – wohlgemerkt einfach! Hin- und Rückfahrt zusammen also maximal 6 Stunden. Für alles, was länger dauern würde, nehme ich den Flieger. Queensland, mein eigentliches Einzugsgebiet, ist schon riesig, aber manchmal habe ich auch Patienten in anderen Bundesstaaten, zum Beispiel in New South Wales“, sagt Dr. Heck.
In diesem riesigen Land ist der Patientenbesuch per Flieger nichts Aufsehenerregendes. Weshalb die Krankenkassen auch die Flugkosen und die Vergütung für den großen Zeitaufwand übernehmen.
Eigene Versicherungssysteme
Für behinderte Menschen mit Rehabilitations- und Pflegebedarf sind in Australien eigene Versicherungen zuständig. Sie arbeiten mit zwei Unterstützungssystemen: Es gibt einen Support Planer und einen Support Coordinator. Die Planer verteilen die Gelder aus der Versicherung, genehmigen Therapiepläne oder lehnen sie ab. Und manchmal schlagen sie auch Therapeuten vor, wenn sie von einem Fachmann oder einer Fachfrau wissen, dass sie gute Arbeit leisten.
Der Support Coordinator stellt mit dem Patienten das behandelnde Team zusammen. „Die Patienten haben dabei volle Autonomie, mit wem sie arbeiten wollen“, erzählt Dr. Heck.
Das Team kann aus Experten aus Ergotherapie, Physiotherapie und Pflege bestehen, aber auch andere medizinische Fachkräfte können dabei sein. In Dr. Hecks Fall zum Beispiel häufig ein Psychologe und „Behavioural Specialist“, ein Verhaltenstherapeut.
Diese Experten übernehmen die Therapie und Unterstützung des querschnittgelähmten Menschen, sobald dieser die Klinik verlassen hat.
Keine Ressentiments gegen Telemedizin
Steht der Therapieplan, versucht Dr. Heck, „die Patientinnen und Patienten so oft wie möglich via Telemedizin zu versorgen. In Australien gibt es da auch keine Ressentiments. Hier sind die Leute damit groß geworden. Kinder werden übers Internet unterrichtet, wenn der Weg zur Schule zu weit ist. Und viele, die weitab von Kliniken und medizinischer Versorgung leben, haben einen Notfallkoffer daheim. Werden sie krank, rufen sie den Arzt an und der sagt ihnen in Ferndiagnose, was sie machen sollen, erzählt die Wahl-Australierin.
Aber natürlich kann man bei einer Kontinenz- und/oder Sexual-Therapie nicht alles per Video klären. Manchmal muss man persönlich mit dem Patienten arbeiten. Da aber gerade Menschen mit hoher Querschnittlähmung nur schwer fliegen und deshalb kaum zu ihrer Therapeutin kommen können, muss die Therapeutin eben zu den Patienten kommen.
Selbst, wenn diese fliegen könnten. „In Australien hat jeder das Recht, versorgt zu werden. Letztendlich sind wir verpflichtet, zu unseren Patienten zu kommen, wenn es für diese zum umständlich wäre, zu uns zu kommen.“
Sexual- und Kontinenzberatung als Teamwork
Die 53-Jährige arbeitet oftmals im Team, zu dem Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, aber auch ein Psychologe oder ein Verhaltens-Therapeut gehören können. „Meiner Meinung ist es immer wichtig, Sexualtherapie multidisziplinär anzugehen. Nur der allererste Kontakt sollte unter vier Augen stattfinden“. Denn Sexualität, vor allem auch Sexualität mit Behinderung, ist in Australien immer noch ein großes Tabu-Thema. Auch für die, die es betrifft.
„Vieles möglich“
„Dabei wäre es so wichtig, dieses Thema früh anzusprechen“, sagt Dr. Heck. „Allein das Wissen, dass Sexualität weiterhin möglich ist, pusht den Genesungsprozess, das wissen wir aus klinischer Erfahrung und aus Studien“. Aber immer noch macht sie die Erfahrung, dass das Thema abgeblockt wird. Oder dass Pflegekräfte im Krankenhaus auf vorsichtige Rückfragen der Betroffenen mit einem „Kannste vergessen. Da geht nichts mehr“ das Thema abwiegeln.
Aber wenn das Thema angesprochen wird, ist vieles möglich. „Es geht nicht nur um das medizinische Modell. Es geht nicht nur um die Erektion oder den Kinderwunsch bei Frauen, sondern auch um diese richtige und wichtige sinnliche Verbindung. Um Erotik und Sinnlichkeit und sexuelle Erfüllung“, betont die Sexual-Therapeutin. (Siehe auch Beitrag Da geht noch was! Positive Sexualität nach einer Rückenmarksverletzung – Der-Querschnitt.de.)
Sie selbst ist bei solchen Beratungen für die Sexual-Therapie zuständig, ein Ergotherapeut gibt Tipps für mögliche neue Stellungen („Hey, probier mal das aus!“) und der Physiotherapeut weiß, welche Muskeln noch aktiviert werden können. „Das hilft dem Patienten unfassbar viel wenn wir Spezialisten ihnen zu einen Einblick geben, was für sie möglich ist – und was für sie sicher ist“. (Für mehr Informationen zu diesem Thema siehe Sexualität bei Querschnittlähmung: Stellungswechsel – Der-Querschnitt.de).
Etwa alle drei Monate trifft sich das Team zu einer Fallbesprechung. Immer mit dabei: Der Mensch mit Querschnittlähmung, um den es ja geht. „Ohne den Patienten machen oder besprechen wir gar nichts“, betont Dr. Heck.
Forschung wichtiger Teil der Arbeit
Dieses Prinzip versucht sie auch bei der zweiten großen Säule ihres Berufslebens umzusetzen. Der Forschung. Etwa 50 Prozent ihrer Arbeitszeit investiert sie in Forschung, natürlich auch wiederum im interdisziplinären Umfeld. Auch hier ist es ihr sehr wichtig, dass die Menschen mit Querschnittlähmung in die Forschungsarbeit miteinbezogen werden.
„Früher gingen die Forschungsergebnisse sehr an dem vorbei, was die Menschen wollen oder brauchen. Das findet man nur heraus, wenn alle an der Forschung beteiligt sind“, ist sie überzeugt. Weshalb sie sich auch sehr dafür einsetzt, dass Menschen mit Querschnittlähmung, die an einer Studie mitarbeiten, genauso bezahlt werden wie die „professionellen“ Forscher.
Kein Versorgungs-Paradies
Wer nun denkt, dass Australien für Menschen mit Querschnittlähmung ein Paradies der ärztlichen und therapeutischen Versorgung ist, liegt nicht ganz richtig. Dr. Heck zumindest hat in einer Ausgabe des UROQ-Podcast de RKU Ulm (siehe auch UROQ: YouTube-Plattform zu neuro-urologischen Aspekten einer Querschnittlähmung – Der-Querschnitt.de) das Gesundheitssystem auch etwas entzaubert. Auch Downunder herrsche Mangel an Fachkräften, gerade in der Pflege. Und für Arzttermine müsse man sehr, sehr lange warten. Ein Beispiel: Ein frisch querschnittgelähmter Mensch bekomme in Australien seine erste (!) Urodynamik nach etwa einem Jahr.
In Deutschland wird diese Untersuchung meist viel früher erstmals durchgeführt, allerdings erst nach der Akut-Phase. Dazu sagt die Leitlinie „Diagnostik und Therapie der akuten Querschnittlähmung“: „Der Zeitpunkt des Beginns der neuro-urologischen Diagnostik ist individuell festzulegen und abhängig von Lähmungsursache, Verletzungshöhe und -schwere. Auch wenn es erste Hinweise gibt, dass eine neurogene Detrusorüberaktivität unabhängig vom Abklingen des spinalen Schocks auftreten kann, sollte eine urodynamische Erstdiagnostik erst nach Stabilisierung der Gesamtsituation der Betroffenen erfolgen.“ (Siehe auch Beitrag Patientenleitlinie „Akute Querschnittlähmung: Was ist für Betroffene wichtig zu wissen?“ – Der-Querschnitt.de).
Zur Person
Dr. Marita Heck betreut Menschen mit Querschnittlähmung in der Klinik, bei ihnen zu Hause und auch im akademischen Umfeld. Sie ist examinierte Krankenpflegerin, hat eine Fachausbildung für Intensivpflege und Anästhesie, einen Master-Titel als Hebamme – und einen Doktortitel in kreativem Schreiben. Letzterer hat überraschend viel mit ihrer Arbeit mit querschnittgelähmten Menschen zu tun. Ihre Doktorarbeit bestand aus der wissenschaftlichen Erforschung von Therapieansätzen von Querschnittlähmung und Sexualität mit Querschnittlähmung und einem Buch, in das sie möglichst viele aktuelle wissenschaftliche Erkenntnissen aus ihren Forschungsergebnissen hat einfließen lassen. Hübsch lesbar verpackt in einen Liebesroman. Sie sagt: „Mir war es wichtig, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse bei den Betroffenen und ihren Familien und der allgemeinen Gesellschaft ankommen und nicht nur so aufbereitet sind, dass nur die Fachleute in den Kliniken und Universitäten sie lesen.“ (Das Buch ist in englischer Sprache erschienen und kann unter anderem hier Secret Forces : Heck, Marita: Amazon.de: Bücher bestellt werden).
Wer die Arbeit und die Forschungsergebnisse von Dr. Heck und ihrem Team näher kennenlernen möchte, kann sich auf ihrer sehr lesenswerte Internet-Seite (externer Link): sexpositivecommunity.com umsehen. Diese Seite unterhält Dr. Heck mit einem Verbund aus Querschnitt-Experten.
Eine ihrer zahlreichen Studien ist unter diesem externen Link abrufbar: Sex-positive sexuality post- spinal cord injury: A systematic review and qualitative metasynthesis
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