Die drei Phasen einer neurogenen Darmfunktionsstörung bei Querschnittlähmung
Nach Eintritt einer Querschnittlähmung durchläuft der Verdauungs- und Ausscheidungstrakt drei Phasen. Fast immer ist dabei die Rückenmarksverletzung gekoppelt mit einer neurogenen Darmfunktionsstörung. Die Fähigkeit, den Darm willentlich zu entleeren, geht meist verloren.

Der Fachausdruck „neurogene Darmfunktionsstörung“ deutet es bereits an: Bei einer Querschnittlähmung wird die Arbeit des Darms durch eine neurogene, also vom Nervensystem ausgehende Ursache gestört. Merkmale der neurogen veränderten Darmfunktion sind eine gestörte Sensorik und Bewegungsfähigkeit des Darms sowie eingeschränkte bis fehlende Reflex-Steuerung von Darmentleerung und Kontinenz.
Mögliche Ursachen
Ursache können zum Beispiel eine Verletzung oder eine Beeinträchtigung des Nervensystems sein. Die Steuerung der Darmbewegung (Peristaltik) und anderer Verdauungsprozesse funktioniert nicht mehr oder nur noch eingeschränkt – dies kann zu verschiedenen Problemen im Verdauungstrakt führen, wie verzögerte Darmpassage, Stuhlinkontinenz oder Verstopfung.
Im Falle einer Querschnittlähmung sind Veränderungen der gastrointestinalen Funktionen, also aller Funktionen, die den Magen-Darm-Trakt betreffen, abhängig von vier Faktoren:
- Höhe der Läsion
- Ausmaß der Verletzung, beziehungsweise Schädigung
- Zeitraum seit Eintritt der Querschnittlähmung
- Alter der querschnittgelähmten Person
Nach einer Rückenmarksverletzung durchlaufen die Veränderungen im Magen-Darm-Trakt drei Phasen, die fließend ineinander übergehen:
1. Akutphase der Darmfunktionsstörung
Die Phase des spinalen Schocks kann wenige Tage, aber auch bis zu sechs Wochen anhalten (siehe auch Beitrag Der spinale Schock bei Querschnittlähmung – Der-Querschnitt.de). In dieser Zeit fallen unterhalb der Läsion alle spinal gesteuerten Funktionen aus, bei Läsionen oberhalb S2 auch die Peristaltik. Auch wenn das darm-eigene Nervensystem, auch enterische Nervensystem, eine Grundperistaltik aufrecht erhält und nicht von der Lähmung betroffen ist: Ein Großteil der Darm-Muskulatur kann erschlaffen, wird nicht mehr innerviert, schlimmstenfalls kann diese Darmatonie zu Darmlähmung und Darmverschluss (Ileus) führen.
„Stillstand“
Da der Inhalt des Dickdarms nicht weitertransportiert wird, verarbeiten die Mikroorganismen im Darm den Stuhl erneut, es kann zu Gärprozessen und massiven Meteorismus und Blähungen kommen. Verletzte entwickeln mitunter Symptome, die dem Bild eines „akuten Abdomen“ ähneln, einem Symptomkomplex, der mit starken Schmerzen im Bauch mit möglicher Lebensbedrohung einhergeht und sofortiges diagnostisches und therapeutisches Handeln erfordert.
In dieser Phase liegt die Verantwortung für den körperlichen Zustand eines frisch Querschnittgelähmten in den Händen der Ärzte und Pflegenden. Erst in der postakuten Phase beginnt die Zeit, in der er wieder verstärkt Eigenverantwortung übernehmen kann.
2. Postakute Phase
Erst wenn der spinale Schock abgeklungen ist, lässt sich feststellen, wie schwer die Rückenmarksverletzung tatsächlich ist und welche Folgen sie hat, beziehungsweise, welche Funktionen und Reflexe eventuell erhalten geblieben sind. Dies gilt m.E. auch für die Darmfunktionsstörungen.
Mit Blick auf den Darm sind mehrere Szenarien möglich:
- Stuhl-Inkontinenz: Der Schließmuskel des Anus kann Sensibilität und Funktion komplett verloren haben – in diesem Fall gilt der Betroffene als komplett gelähmt (siehe auch Beitrag Formen der Querschnittlähmung: Klassifizierung und Ausprägungen – Der-Querschnitt.de). Für ihn bedeutet das auch, dass er Stuhlabgang und Flatulenzen nicht mehr kontrollieren kann.
- Verstopfung: Durch verlangsamte Peristaltik, ballaststoffarme Ernährung und Bewegungsmangel wird der Darm ausgebremst. Die Folge: Verstopfung.
- Mischform – die Verstopfung löst eine ungeplante Entleerung aus: Häufig blockiert zunächst verhärteter Stuhl den Darmausgang, irgendwann kommt es zur schwallartigen Entleerung des Darms
Alle drei Szenarien können eine massive Einschränkung der Lebensqualität bedeuten, bis hin zum Rückzug aus dem sozialen Leben aus Angst vor einem Inkontinenz-Ereignis.
Grundprinzipien des Darmmanagements
Deshalb ist die postakute Phase auch die Zeit, in der sich ein frisch Querschnittgelähmter in enger Zusammenarbeit mit Ärzten, Pflegenden und Therapeuten mit den Grundprinzipien des Darmmanagements vertraut machen sollte – ganz individuell, ganz auf den eigenen Körper abgestimmt. Ziel ist es, die regelmäßige und kontrollierte Darmentleerung zu fördern.
Einige Maßnahmen können im individuell angepassten Zusammenspiel das Darmmanagement erleichtern:
- Planung und Regelmäßigkeit: Möglichst feste Essenszeiten und ein exakter Abführplan als wichtiger Bestandteil des Darmtrainings
- Noch vorhandene Reflexe nutzen: Trinken oder Essen stimuliert den gastrokolischen Reflex, was sich gezielt nutzen lässt.
- Massieren von Darmzonen, um Darmregionen gezielt zu stimulieren (siehe auch Beitrag Colonmassage: Gegen die Verstopfung – Der-Querschnitt.de )
- In Bewegung bleiben: Physiotherapie, Sport und Bewegung können dem Darm Impulse geben und die Darmfunktionen fördern.
- Bewusst essen: Eine ballaststoffreiche Ernährung (30g/Tag) und eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr sind für eine gesunde Darmfunktion entscheidend. In vielen Fällen wird auch eine spezielle Diät zur Unterstützung der Verdauung empfohlen. (Siehe Beiträge 14 Regeln zur Ernährung bei Querschnittlähmung – Der-Querschnitt.de sowie Richtig trinken bei Querschnittlähmung – Der-Querschnitt.de)
- Nachhelfen: Langzeitverträgliche Abführmittel zur Stuhlmodulation, digitale Stimulation und/oder digitales Ausräumen des Stuhls, Einläufe, Zäpfchen oder Klistiere können die Entleerung erleichtern
3. Zurück im neuen Leben mit Querschnittlähmung
Nun ist Eigenverantwortung gefragt, unter anderem durch den regelmäßigen – jährlichen – Check im Querschnittzentrum. Der Darm und seine neurogenen Störungen sollten im Rahmen der lebenslangen Nachsorge immer im Fokus bleiben. Denn der menschliche Körper verändert sich. Man wird älter (siehe Beitrag Altern mit Querschnittlähmung: Auswirkungen auf den Darm – Der-Querschnitt.de). Vielleicht kommen Erkrankungen oder neue Medikamentierungen hinzu oder die Möglichkeit, sich zu bewegen nimmt ab.
Lebenslange Nachsorge
Daher sollte die Überprüfung der Darmfunktionsstörung und das dazugehörige Darmmanagement im Rahmen der lebenslangen Nachsorge essenziell sein. Denn ein unzureichendes Darmmanagement außerhalb des „betreuten“ Klinikaufenthalts kann weitreichende Probleme nach sich ziehen oder verstärken. Nicht nur im sozialen Leben. Die Leitlinie nennt unter anderem:
- Abdominelle Schmerzen/Missempfindungen
- Anale Fissuren
- Autonome Dysreflexie (bei Querschnittlähmung oberhalb T6), siehe auch Beitrag Querschnittlähmung: Was geschieht bei einer Autonomen Dysreflexie? – Der-Querschnitt.de
- Dekubitus, siehe auch Beitrag Entstehung von Druckstellen (Dekubitus) bei Querschnittlähmung – Der-Querschnitt.de
- Einschränkung der Atemfunktion
- Hämorrhoidalleiden, siehe auch Beitrag Hämorrhoiden: Erscheinungsbild und Behandlungsmöglichkeiten bei Querschnittlähmung – Der-Querschnitt.de
- Harnwegsinfekte, siehe auch Beitrag Harnwegsinfektionen: erkennen – behandeln – vorbeugen – Der-Querschnitt.de
- Megakolon/Megarektum: Erweiterung des Dickdarms, beziehungsweise Mastdarms aufgrund chronischer Verstopfung
- Meteorismus
- Prolaps (rektal oder anal): Vorfall des Mastdarms, des Afters oder Analschleimhaut vor den Schließmuskel.
- Spinale Spastik, siehe auch Beitrag Spastik als Folge einer Querschnittlähmung – Der-Querschnitt.de
Es scheint also sehr ratsam, sich in Sachen Darmmanagement immer wieder auf den neuesten Stand zu bringen. Mögliche Ansprechpartner könnten das behandelnde Querschnittzentrum oder das Beratungszentrum der Manfred-Sauer-Stiftung für Ernährung und Verdauung bei Querschnittlähmung sein. Nähere Informationen und Kontaktdaten: Beratungszentrum – Manfred Sauer
Dieser Text wurde mit größter Sorgfalt recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben. Die genannten Produkte, Therapien oder Mittel stellen keine Empfehlung der Redaktion dar und ersetzen in keinem Fall eine Beratung oder fachliche Prüfung des Einzelfalls durch medizinische Fachpersonen.
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