Querschnittlähmung: „Botox“-Behandlung bei Funktionsstörungen der Blase
Injektionen mit Botulinumtoxin – vielen vermutlich eher als „Botox“ bekannt – gelten als probate Therapie bei neurologisch bedingen Blasenfunktionsstörungen. Vielen Menschen mit Querschnittlähmung gibt die Botox-Behandlung der Blase ein großes Stück Lebensqualität zurück. Und sie kann helfen, lebensbedrohliche Komplikationen zu vermeiden.

Menschen mit Querschnittlähmung leiden oftmals an einer neurogenen Blasenfunktionsstörung. Im Mediziner-Jargon spricht man in diesem Fall von einer neurogenen Dysfunktion des unteren Harntraktes (NLUTD). Liegt die Rückenmarksschädigung oberhalb des Steuerungszentrums für die Blasenentleerung (siehe: Miktionszentren), bildet sich in der Regel eine spastische Blase.
Diese kann zwar durch den intermittierenden Katheterismus (Goldstandard) entleert werden. Trotzdem können zwei Szenarien mit unterschiedlichen Konsequenzen für die Betroffenen auftreten:
- Urin-Inkontinenz: Die Blase leert sich unkontrolliert und reflexartig. Die Inkontinenz empfinden viele Menschen mit Querschnittlähmung als äußerst unangenehm und frustrierend.
- Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie: Blasenmuskel (Detrusor), Beckenbodenmuskulatur und der Schließmuskel (Sphinkter) arbeiten gegeneinander – und machen dicht.
Letzteres ist eine „vom Patienten primär oft nicht bemerkte Gefahr“, schreibt PD Dr. med. Lorenz Leitner von der Schweizer Universitätsklinik Balgrist. „Ziehen sich Blase und Schließmuskel gleichzeitig zusammen besteht die Gefahr, dass sich ein hoher Druck in der Blase aufbaut, Urin in die Nieren zurückläuft und sich aufstaut. Dies führt langfristig zu einem Verlust der Nierenfunktion. Früher bedeutete ein solcher Nierenstau bei bis zu 50 Prozent der Betroffenen das Todesurteil.“ (siehe hierzu auch Versorgung Rückenmarksverletzter gestern und heute – Der-Querschnitt.de).
Erste Wahl: medikamentöse Therapie
Am Anfang der Therapie steht die gründliche Untersuchung der Blasenfunktionsstörung. Steht ihr Status und ihre Auswirkungen fest, kann die individuelle Therapie beginnen. Die derzeitige Standardtherapie bei Querschnittlähmung ist die orale Einnahme anticholinerger Substanzen, kombiniert mit der Entleerung der Blase durch den intermittierenden Selbstkatheterismus. Diese medikamentöse Therapie bildet die Grundlage jeder qualifizierten Behandlung, betont die Leitlinie „Neuro-urologische Versorgung querschnittgelähmter Patienten“.
Doch auch sie hat ihre Grenzen und Nachteile. Manchmal zeigen die Medikamente zu wenig Effekt. Auch unerwünschte Nebenwirkungen sind möglich. Häufig klagen Patienten unter trockenem Mund, harten Stuhlgang, Müdigkeit, Sehstörungen, gelegentlich auch Gedächtnisproblemen oder Phasen von Verwirrtheit.
Mehr als 50 Prozent Patienten brechen die Behandlung mit Tabletten innerhalb eines Jahres ab.
Step 2: Botulinumtoxin für die Blase
Sind die Möglichkeiten der medikamentösen Therapie ausgeschöpft, können Ärzte bei einer Querschnittlähmung mit Läsionshöhe unterhalb C8 Botox-Injektionen in den Harnblasenmuskel (Detrusor) anbieten. Auch die Leitlinie „Medikamentöse Therapie“ empfiehlt bei neurogener Detrusor-Überaktivität (NDO, neurogenic detrusoroveractivity) infolge einer Querschnittlähmung oder Multipler Sklerose „die Injektionstherapie mit Onabotulinumtoxin A in den Detrusor“.
Was ist „Botox“?
Botulinumtoxin (BTX) ist ein hochwirksames Nervengift, das Lebensmittelvergiftungen mit mitunter tödlichem Ausgang hervorrufen kann. Botulinumtoxin wird von Bakterien der Spezies Clostridium botulinum gebildet und ausgeschieden. Erstmals wissenschaftlich nachgewiesen wurde BTX 1896 auf Schinkenresten. Die Bakterien und ihre giftigen Ausscheidungen finden sich aber auch in mangelhaft eingekochtem Gemüse oder auf verdorbenem Fisch, Fleisch oder Wurst. Daher auch der Name – er leitet sich vom lateinischen „botulus“ für Wurst ab.
Seit den 1980er-Jahren wird das Nervengift wegen seiner muskelentspannenden Wirkung auch als zugelassenes Arzneimittel eingesetzt. Es hemmt die Übertragung der Signale vom Nerv auf den Muskel. Anwendungsgebiete sind zum Beispiel Krämpfe, neurologische Erkrankungen oder Migräne.
Breitere Bekanntheit gewann das Toxin durch seine Verwendung in der kosmetischen Medizin. Seit 1993 ist ein entsprechendes Präparat unter dem Namen „Botox“ in Deutschland zur Minderung von Falten zugelassen.
Botox-Injektionen in die Blase gelten als minimalinvasiver Eingriff
Zur Vorbereitung wird die Blase entleert und örtlich betäubt. Anschließend injiziert der Arzt das stark verdünnte Nervengift während einer Blasenspiegelung mit einer sehr feinen Nadel in gleichmäßigen Abständen in den Harnblasenmuskel.
Insgesamt dauert die Prozedur etwa 45 Minuten. Die Leitlinie zur neuro-urologische Versorgung querschnittgelähmter Patienten rät „zur Injektion von Botulinumtoxin in den Detrusor vesicae im Rahmen einer stationären Behandlung“. Die Leitlinie zur medikamentösen Behandlung erinnert zudem an die Gefahr einer autonomen Dysreflexie (siehe Beitrag Querschnittlähmung: Was geschieht bei einer Autonomen Dysreflexie? – Der-Querschnitt.de) und weist darauf hin, dass bei Menschen mit Querschnittlähmung auch bei diesem minimal-invasiven Eingriff je nach Einzelfall eine Narkose nötig sein kann.
Bei Querschnittlähmung: So wirkt „Botox“ in der Blase
Die – erwünschte – Folge der Botulinumtoxin-Injektionen:
- Kontinenz: Das Nervengift schwächt oder lähmt den Detrusor. Dies hat einen großen Benefit für den Querschnittgelähmten: Da der Blasenmuskel nun entspannt ist, sind reflexartige Kontraktionen des Blasenmuskels und damit verbunden unkontrollierbare Entleerungen der Blase Vergangenheit. Endlich ist die Inkontinenz weg!
Dieser positive Effekt ist zugleich ein Nachteil der Methode: Nach der Botox-Injektion entleert sich die Blase nicht mehr allein (wie sie es bisher bei Inkontinenz-Ereignissen tat), ab nun müssen Menschen mit Querschnittlähmung ihre Blase konsequent mit intermittierendem Katheterismus entleeren. Ein Nachteil freilich, den die meisten sehr gerne in Kauf nehmen.
- Schutz der Nieren: Botulinumtoxin unterdrückt die Arbeit des Blasenmuskels. Die Gefahr, dass Blasen-Kontraktionen den Urin zurück ins Nierenbecken pressen, schwindet. Zudem vergrößert sich die Kapazität der Blase – aus einen Hochdruck-Reservoir kann ein Niedrigdruck-Reservoir werden. Auch dies verringert den Rückstau von Urin in die Nieren.
- Regelmäßiges Katheterisieren: Nach einer Botox-Behandlung der Blase müssen Menschen mit Querschnittlähmung regelmäßig katheterisieren. Auch dieses Blasenmanagement kann dazu beitragen, die Harnwege gesund zu erhalten. Denn durch den regelmäßigen intermittierenden Katheterismus (IK) wird die Blase entlastet und die Ansammlung von Restharn vermieden.
Botox für die Blase: Keine lebenslange Wirkung
Die Wirkung von Botox auf die Blase hält 6 bis 12 zwölf Monate an, meist wird zu einem früheren Zeitpunkt eine erneute Injektion nötig. Mitunter kann eine medikamentöse Begleittherapie angeraten sein.
Die zeitliche Begrenzung ist zugleich ein Vorteil. Da der Eingriff nicht irreversibel ist, können Arzt und querschnittgelähmte Patientinnen und Patienten die Behandlung einfach auslaufen lassen. Botox-Injektionen sind kein Allheilmittel für jedermann.
Falls gesundheitliche oder therapeutische Gründe gegen eine erneute Injektion sprechen, muss idividuell nach einer Alternative gesucht werden.
Bitte um Erfahrungsaustausch
Eine Leserin möchte zu diesem Thema in einen Erfahrungsaustausch mit querschnittgelähmten Menschen treten (falls jemand nicht öffentlich antworten will, leitet die Redaktion die Antworten gerne an die Leserin weiter). Am 19.02.2025 schrieb sie:
„Hallo
Mein Sohn ist Tetrapleniker (C5), er hat mittlerweile schon 3x eine Botoxinjektion in die Blase bekommen. Die Wirkung hat leider bei den ersten beiden Behandlungen sehr schnell nachgelassen und musste nach ca. 6 Monaten wiederholt werden. Die letzte Behandlung hat vor ca. 6 Wochen stattgefunden, und wurde wohl dieses mal mit einer höheren Konzentration des Botox durchgeführt um eine länger Wirkung zu erzielen. Mein Sohn ist seit diesem Eingriff körperlich sehr matt, hat deutlich weniger Kraft und natürlich ist er mental seit diesem Eingriff auch sehr angeschlagen. Ich sehe einen deutlichen Zusammenhand mit dieser Botoxbehandlung und möchte bitte wissen ob das sein kann, und ob andere Patienten diese Erfahrung auch schon gemacht haben und ob es Hilfe gibt. Leider ist eine Kontaktaufnahme mit dem behandelnden Urologen bis jetzt nicht erfolgt ( Wille meines Sohnes).
Vielen Dank für eventuelle Antworten.“
Am 26.02.2025 antwortete ein Leser: „@Vorkommentar: ich bin Tetraplegiker (C5/C6) und werde kommenden Mittwoch meinen 5. Eingriff Botox-A mit 200 Einheiten bekommen. Ich hatte nach meinen bisherigen Eingriffen nicht diese Probleme. Bei mir hält das Botox erfreulicherweise ziemlich lange (ca. ein Jahr). Dieses Mal nähere ich mich sogar fast den 2 Jahren. Ich dachte zwischenzeitlich schon, dass ich darauf generell verzichten kann. Leider hat mich dann aber eine Blasenentzündung (hatte ich in der Zeit nicht einmal) Anfang des Jahres zurückgeworfen und seitdem ist die Blase unruhig.
Die Frage, die ich jedem Urologen im Zusammenhang Botox und Querschnitt stelle, ist: wie oft kann man diesen Vorgang wiederholen? Hierauf konnte mir bislang keiner aufgrund von verlässlicher Langzeiterfahrung antworten. Da bei dem Eingriff ja diverse kleine Mikroinjektionen rund um die „Blasenwand“ erfolgen, vernarbt die Blase auf Dauer. Wer dazu mehr weiß oder verlässliche Quellen hat, gerne ebenfalls mal kommentieren.“
Dieser Text wurde mit größter Sorgfalt recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben. Die genannten Produkte, Therapien oder Mittel stellen keine Empfehlung der Redaktion dar und ersetzen in keinem Fall eine Beratung oder fachliche Prüfung des Einzelfalls durch medizinische Fachpersonen.
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