Leben mit Querschnittlähmung- vor 40 Jahren: „Besonders für Frauen waren die Toiletten der große limitierende Faktor“

„Als querschnittgelähmte Frau war ich Anfang der 80er-Jahre darauf angewiesen, irgendwie alle zwei Stunden irgendwo auf eine Toilette zu kommen“, erzählt Heidi Kirste. Was zur Folge hatte, dass ihr Leben als Teenager und junge Frau mit Querschnittlähmung über weite Teile von der Frage bestimmt war: „Wo ist die nächste Toilette, in die ich mit meinem Rollstuhl reinpasse?“ Ein Bericht aus der Zeit vor Euroschlüssel, Intermittierendem Katheterismus, rollstuhlgerechten Toiletten und Internet.

Trink ich heute Abend ein kleines Wasser oder ein großes Bier? Diese Frage beantwortete sich in den 80er-Jahren nach einem Blick in die Sanitärräume meist von selbst.

Die Wo-ist-die-nächte-Toilette-Frage und die Komme-ich-da-mit-meinem-Rollstuhl-rein-Frage waren Anfang der 80er-Jahre noch viel dringlicher als heute. Vor allem für Frauen. Wo querschnittgelähmte Männer sich vielleicht in einer geschützten Ecke in den Waschräumen erleichtern konnten, waren/sind Frauen mit Querschnittlähmung darauf angewiesen, auf die Toilette zu transferieren. „Die Neuro-Urologie steckte ja noch in den Anfängen, das Katheterisieren hat sich erst ab Ende der 80er etabliert. Weshalb ich schlichtweg alle zwei Stunden irgendwie auf eine Toilette kommen musste. Sobald ich endlich auf einer Toilette war, habe ich quasi schon überlegt, wo die nächste ist, die ich benutzen könnte.“

Doppel-Desaster: Schmale Toilette, breiter Rollstuhl

Damals waren relativ breite Rollstühle Standard, erschwerend gab es kaum Behinderten-Toiletten mit breiten Türöffnungen. Um mit dem Rollstuhl auch durch schmale Toilettentüren zu kommen, wurde an jedem Zentimeter Sitzbreite gespart und auf Seitenteile ganz verzichtet. Kein Spaß im Winter und bei Regen.

Kirste (hier auf einem Bild aus dem Jahr 1992) hat zwei Kinder. Während der Schwangerschaften wurde die Toiletten-Frage „nochmals sehr akut: Das Kind drückt auf die Blase und mit Babybauch wird jeder Transfer schwerer – natürlich auch der auf die Toilette.“

Als hinderlich erwiesen sich die damals üblichen Rollstuhl-Modelle auch, wenn es Kirste endlich gelungen war, sich durch die meist schmale Türöffnung zu bugsieren: Die Kabinen waren eng, die Fußrasten lang … „da stand ich dann Spitze auf Spitze vor der Toilettenschüssel und musste erst die Fußrasten hochklappen, um überhaupt auf die Toilette transferieren zu können.“ 

Manchmal half ihr ihre Mutter mit einem „Transfer im Stand“, so wie sie es in der Reha-Klinik zusammen gelernt hatten: Querschnittgelähmte Tochter aufrichten, mit den eigenen Knien die Knie der Tochter fixieren und durchdrücken, die Tochter aus dieser Position drehen und auf die Toilette setzen: „Das hat bei mir ganz gut geklappt, weil ich eine Streckspastik hatte und meine Beine tatsächlich für einen Moment durchgestreckt waren. Aber für meine Mutter war es furchtbar anstrengend.“

Seitliche Transfers, bei denen der Rollstuhl schräg neben der Toilette geparkt wird und man sich selbst vom Rolli auf die Schüssel transferieren kann, waren aufgrund der baulichen Enge nur in den seltensten Fällen möglich. Denn Schlagworte wie „rollstuhlgerecht“ oder „barrierefrei“ waren zu der Zeit eher nette Ideen, aber eben noch nicht in der Realität angekommen.

Toiletten-Problematik omnipräsent

Da war zum Beispiel die Klassenfahrt, an der sie nach ihrer Rehabilitation teilnahm: In der Jugendherberge gab es zwar im Erdgeschoss eine Behinderten-Toilette – die Schlafräume der Mädchen aber waren im ersten Stock. Aufzug gab es natürlich keinen. „Das war beschwerlich, aber ich war ja jung und sportlich. Außerdem hatte ich jede Menge Leute, die mir die Treppen rauf und runter halfen.“

Während Kirstes Rehabilitation zog die Familie um, was auch einen Schulwechsel nötig machte. Die neue Schule war ausgestattet mit Fahrstuhl und rollstuhlgerechter Toilette. Kirste war zwar die erste und damals einzige Rollstuhlfahrerin auf diesem Gymnasium, aber jungfräuliche und saubere Sanitäranlagen erwarteten sie dennoch nicht: Ein paar Schülerinnen hatten den Raum okkupiert, um dort heimlich zu rauchen. „Die musste ich dann immer erst vertreiben. Und weil es kein Fenster gab, hat es ziemlich gemieft“. 

Nette Anekdote, aber als „Neue“ auf der Schule die Oberstufenschülerinnen aus den Rolli-Klo zu jagen kostete schon Überwindung. „Richtig Pause hatte ich fast nie, die Pausenzeit ging fast immer für den Toilettenbesuch drauf.“Die Toiletten-Frage war also alles andere als lustig. Sie war bei nahezu jeder außerhäuslichen Aktivität präsent, oder, wie Kirste es formuliert: „Die Toiletten waren in meinen jungen Jahren der große limitierende Faktor“. 

Bei Café- oder Restaurant-Besuchen galt (und gilt) einer der ersten Gedanken immer der Frage: Kann ich da auf die Toilette oder nicht? Kirstes Taktik: „Ich habe immer als erstes gesagt, dass ich mir die Hände waschen will. Das hat ja auch gestimmt, die waren durch den Rollstuhl ja wirklich immer schmutzig. Nachdem ich einen Blick in die Kabinen geworfen hatte (oder gemerkt hatte, dass ich gar nicht erst mit meinem Rollstuhl zu den Toiletten komme), wusste ich, ob ich ein kleines Glas Wasser oder ein großes Bier trinke.“

Zur Person


Heidi Kirste hatte 1981 als 14-Jährige einen Reitunfall und ist seither querschnittgelähmt. Heute ist sie u.a. als Klassifiziererin im Rollstuhlbasketball tätig. Als aktive Spielerin vertrat sie mehrmals und mit Erfolg Deutschland bei den Paralympics. Wie sich die Bedeutung und der Status dieses sportlichen Großereignisses im Laufe der Jahrzehnte gewandelt hat, schildern Kirste und andere ehemalige Spitzensportler im Beitrag Die Geschichte der Paralympics: Zeitzeugen berichten. 

Und auch auf kleineren oder größeren Reisen war die Toiletten-Frage immer im Gepäck dabei: Zum Beispiel, wenn sie mit ihrem Rollstuhlbasketball-Team zu Turnieren fuhr. Ihre Mitspielerinnen und sie wussten nie, ob es in der Halle rollstuhltaugliche Toiletten gab oder nicht. 

Flugreisen „waren von der bangen Frage begleitet, ob mein Rollstuhl wohl mit mir ankommen würde. Oft wurde er versehentlich mit den Koffern zum Gepäckband gebracht oder – noch schlimmer – war gar nicht am selben Flughafen gelandet wie ich. Dabei brauchte ich ihn besonders dringend, schließlich musste ich ja ganz schnell auf die Toilette …“, erinnert sich Kirste.

25 rollstuhlgerechte Toiletten. Bundesweit.

Mit 18 machte sie den Führerschein und bekam ein eigenes Auto, um „endlich selbstbestimmt Freunde besuchen, zum Sport fahren und unterwegs sein zu können; „öffentliche Verkehrsmittel wie Bus und Bahn waren für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich“. Zur Schule fuhr sie deshalb anfangs mit dem Taxi – was ihr aber bald zu umständlich wurde, weil sie bei jeder Freistunde erst einmal ein passendes Fahrzeug vom Festnetzanschluss im Schulsekretariat aus organisieren musste (Handys gab es ja noch nicht). Also fuhr sie bald mit dem Rollstuhl zur Schule und zurück. Für weitere Strecken wollte die junge Erwachsene nun eben ein eigenes Auto nutzen. 

Völlig frei und unbekümmert unterwegs sein konnte sie aber auch mit ihrem roten Kadett nicht. Stichwort: Toiletten-Problematik. „Wenig später gab es eine Karte vom deutschen Autobahnnetz, in der alle Raststätten mit behindertengerechten WCs aufgeführt waren – das waren am Anfang etwa 25. Wenig später wurde der Euro-Schlüssel eingeführt und die Anzahl der rollstuhlgerechten WCs nahm langsam, aber stetig zu.“

Vieles ist besser geworden

Heute sind dank modernem Rollstuhl und Katheterisierung auch Fernreisen prima möglich. Das Bild zeigt Kirste bei einer Reise durch Peru. Angenehme Überraschung: Selbst in Machu Picchu in den Anden gab es Rolli-WCs.

Auf ihre Anfänge im Rollstuhl und die Begleitumstände kann Heidi Kirste heute mit einem Lächeln zurückblicken. Sie durfte miterleben, wie sich die Welt durchaus auch im positiven Sinne gewandelt hat und wie viele Barrieren, die sie in ihrer Jugend noch ausgebremst und limitiert haben, aus dem Weg geräumt wurden. Durch Bauverordnungen, ein geändertes gesellschaftliches Bewusstsein und wachsende Möglichkeiten zur Teilhabe (siehe auch Beitrag Leben mit Querschnittlähmung – Rollstühle vor 40 Jahren: Sperrige Riesengurken und ein Hohelied auf die Steckachse).  

Heute Zugang zu 10.000 Toiletten

Heute passt der Euroschlüssel allein in Deutschland zu etwa 10.000 stillen Örtchen, aber auch im europäischen Ausland stellen Anbieter zunehmend auf das System um (siehe auch: Schlüsselerlebnis – Der Euro-Toilettenschlüssel). Die Barrierefreiheit in Bus und Bahn ist zumindest deutlich größer geworden als damals (siehe auch: Auf geht´s! Serviceleistungen, die Bahnreisende im Rollstuhl kennen sollten). Rollstuhlgerechte Toiletten finden sich inzwischen in vielen öffentlichen Gebäuden, Restaurants und Cafés, entsprechende Suchmaschinen im Internet machen es leicht, sie zu finden. Und die neuro-urologische Versorgung (frisch) querschnittgelähmter Menschen hat ebenfalls große Fortschritte gemacht, der Intermittierende Katheterismus sich als Goldstandard etabliert und damit zu mehr Freiheit und Selbstbestimmtheit geführt (siehe auch: Intermittierender Katheterismus: Standards und Hilfsmittel).


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