Recht auf Rehabilitation und Teilhabe: Neue 50-seitige Broschüre informiert über aktuelle Regelungen

„Was hat sich seit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes geändert?“, fragt sich Autor Holger Borner – und gibt in einem 50-seitigen Ratgeber Antworten. Der Anwalt beschäftigt sich in der neuen Broschüre der „Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.“ (BAG SELBSTHILFE) mit dem aktuell geltenden Recht auf Rehabilitation und Teilhabe.

Viele nehmen es nicht wahr, aber: Seit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes hat sich einiges geändert

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ging 2017 mit Reformstufe 1 an den Start. 2023 sollte mit Reformstufe 4 die Neuausrichtung der Sozialgesetzgebung abgeschlossen sein. Die Umsetzung der letzte Stufe lässt zwar noch auf sich warten (siehe dazu die Beiträge Viele Verbesserungen auch für Menschen mit Querschnittlähmung: Die vier Reformstufen des Bundesteilhabegesetzes sowie Der lange Weg zum Bundesteilhabegesetz). Aber wichtige Weichenstellungen und Änderungen sind bereits in Kraft.

Dr. Martin Danner, Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE merkt dazu im Vorwort der Broschüre an: „Nicht alle werden aber wissen oder bereits gemerkt haben, was sich mit dem Gesetz für sie geändert hat oder ändern soll.“ Eine – nicht repräsentative – Umfrage der BAG SELBSTHILFE habe ergeben, dass die meisten der Befragten in der Praxis noch keinen nennenswerten Unterschied zur früheren Rechtslage feststellen.

Die Broschüre will daher vor allem eine Orientierung zu den neuen Leistungsansprüche geben und aufzeigen, welche Möglichkeiten bestehen, sie auch wirksam durchzusetzen. Hinzu kommt ein kurzer Überblick über das Sozialsystem in Deutschland und speziell über den Rehabilitationsprozess.

Die wichtigsten Komponenten des BTHG

In Teil 1 nennt die Broschüre unter anderem die wichtigsten Komponenten des BTHG und erläutert ihre Auswirkungen auf das reale Leben. Ein kurzer Anriss:

Neuer Behinderungsbegriff: Die Wechselwirkungen zwischen Person und Umwelt rückt in den Fokus

Selbstbestimmung – Wunsch- und Wahlrecht: Bei Entscheidungen über Leistungen zur Teilhabe muss den berechtigten Wünschen der Leistungsbe­rechtigten entsprochen werden. Das Wunsch- und Wahlrecht bedeutet in der Regel auch, dass anstelle einer Sach­leistung auch eine Geldleistung (Stichwort. Persönliches Budget) gewährt werden kann.

Frühzeitige Bedarfserkennung: Aufklärung und Beratung gewinnen an Gewicht: Zum einen wurden Ansprechstellen bei den Reha-Trägern ge­schaffen, die Leistungsberech­tigte, Arbeitgeber und ande­re Reha-Träger informieren. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, sich an eine Beratungsstelle der „Ergänzenden unabhängi­gen Teilhabeberatung“ zu wenden.

ICF-Orientierung bei der Bedarfsermittlung: Betrachtet wird nicht mehr nur die reine Funktionsbeeinträchtigung, sondern auch, welche Folgen und Auswirkungen eine gesundheitliche Be­einträchtigung im Leben des Betroffenen insgesamt verursacht und durch welche Faktoren dies beeinflusst wird. (Siehe auch Beitrag ICF: Wichtiger Klassifizierungsfaktor bei Rehabilitation und Teilhabeplanung)

Vereinfachte Antragstellung – Gesamtplanverfahren: Eine wesentliche Verbesserung stellt laut Broschüre das neue vereinfachte und beschleunigte Reha-Verfahren dar. Ein einziger Antrag genügt, um alle erforderlichen Leistungen zu erhalten, auch wenn für die Erbringung verschiedene Reha-Träger zu­ständig sind.

Leistungen wie aus einer Hand: Auch wenn eigentlich verschiedene Träger zuständig sind, erhält der Leistungsberechtigte nur einen Bescheid vom „zuständigen“ Träger, in dem alle Leistungen aufgelistet sind.

Einbindung des Leistungsberechtig­ten in das Teilhabeplanverfahren: Leistungsberechtigte werden in das Verfah­ren zur Erstellung eines Teilhabeplans eingebunden, um – so weit möglich – die persön­liche Situation und die Bedürfnisse des Berechtigten zu berücksichtigen.

Assistenzleistungen: Neu ist, dass Assistenzleistungen nun explizit alsLeistung der Ein­gliederungshilfe bei den Leistungen zur Sozialen Teilhabe genannt werden. Bestimmte kostenintensive Assistenzen wie die Schulassistenz können – falls zumutbar – gemeinsam für mehrere Personen erbracht werden.

Persönliches Budget: Menschen mit Be­hinderungen haben Anspruch auf Geldleis­tungen anstelle einer Sach- oder Dienst­leistung (falls diese nicht zwingend in einer bestimmten Reha-Einrich­tung erbracht werden muss). Spezielle Sonderleistungen sind das Budget für Arbeit und das Budget für Ausbildung. (Siehe auch Beiträge Das Persönliche Budget, Persönliches Budget: Die Zielvereinbarung,  Ab in den ersten Arbeitsmarkt! „Budget für Arbeit“ und „Budget für Ausbildung“ sollen dabei helfen)

Anrechnung von Einkommen und Vermögen: Für behinderte Menschen, die Eingliederungshilfe beziehen, gelten nunmehr deutlich höhere Einkommens- und Vermö­gensfreigrenzen. Einkommen und Vermögen werden nur noch zu einem geringeren Maße an­gerechnet. (Siehe auch Beitrag Eingliederungshilfen: Vermögensfreibeträge statt Mittellosigkeit)

Anspruch auf unabhängige Beratung: An die Stelle der früheren Ge­meinsamen Servicestellen der Reha-Träger treten nun die sog. Ansprechstel­len, die für Leistungsberechtigte, Arbeitgeber und ande­re Reha-Träger zur Verfügung stehen. Sie werden von den Kostenträgern geführt. Wer sich lieber trägerunabhängig beraten lassen will, kann sich auch an die Er­gänzende unabhängige Teilhabebera­tung (EUTB) wenden. Diese Beratungen werden hauptsächlich von Behindertenorganisa­tionen durchgeführt. Ihr Vorteil: Hier beraten Menschen, die selbst behindert sind und sich daher häufig in einer ähnlichen Lebenssituation befinden wie der Ratsuchende.

Stärkung der Schwerbehindertenvertretung: Diverse Einzelrege­lungen und Anpassungen sollen die Rechte von Schwerbehinderten in Unternehmen stärken.

Gesetzliche Grundlagen

Teil 2 stellt die gesetzlichen Grundlagen vor. Die Intention der Verfasser: „In der Tat erscheint das soziale System in Deutschland ein wenig unübersichtlich und verwirrend. Wir wollen daher zunächst einen kurzen Überblick verschaffen, wer für was zuständig ist und wo was gesetz­lich geregelt ist.“ Unter anderem werden Gesetze vorgestellt, die für behinderte Menschen besonders relevant sind. (Siehe auch Beitrag Gesetze, die Menschen mit Querschnittlähmung kennen sollten)

Ein Beispiel: Die „Eingliederungshilfe“, die von SGB XII in den zweiten Teil des SGB IX wanderte. Was Auswirkungen für Betroffene hat: „Ziel ist es, den persönlichen Bedarf der Leistungsberechtigten in den Vordergrund zu stellen und ein personenbezogenes Verfahren durchzuführen, um das … Ziel der Selbstbestimmung und vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erreichen. Früher war insoweit vor allem die Wohnform für den Eingliederungs­bedarf maßgeblich, d.h. der Bedarf wur­de insbesondere daran festgemacht, ob jemand in einem Privathaushalt lebt, in einer Einrichtung oder etwa im Rahmen eines Betreuten Wohnens. Das hat sich nunmehr grundsätzlich geändert. Anders als in der Vergangenheit erbringen die Träger der Sozialhilfe nur noch die exis­tenzsichernden Leistungen (Kosten der Unterbringung, Verpflegung – so wie für andere unterstützungsbedürftige Perso­nengruppen auch), nicht mehr hingegen die Teilhabe- und Rehabilitationsleistun­gen, für die nunmehr die Reha-Träger zu­ständig sind.“

Neuer Behinderungsbegriff

Teil 3 der Broschüre widmet sich dem neuen Behinderungsbegriff. Wer gilt weshalb als behindert? Die Beurteilung, ob und inwieweit eine Beeinträchtigung vorliege, werde nicht mehr wie früher ausschließlich an der körperlichen Funktionsbeeinträchtigung festgemacht, sondern an der Wech­selwirkung mit den Rahmenbedingungen (Barrieren), denen die betreffende Person ausgesetzt ist, gemessen – und der Frage, inwieweit hierdurch eine Teilhabebeeinträchtigung hervorgerufen wird.

Hier finden auch arbeitsrechtliche Aspekte und Leistungen aus der Versorgungsmedizin Erwähnung – unter anderem die Bedeutung des Grads der Behinderung, von dem nahezu immer die Berechnung vieler Nachteilsausgleiche abhängt. (Siehe auch Beitrag Der lange Weg zum Bundesteilhabegesetz)

Aspekte der Rehabilitation

Das Thema „Rehabilitation“ wird in Teil 4 behandelt. Bei Menschen mit Querschnittlähmung mag dieses Wort zunächst Erinnerungen an die Erst-Reha nach einer traumatischen Querschnittlähmung und an folgende Rehas wecken. (Siehe Beitrag Dauer und Phasen der Rehabilitation bei Querschnittlähmung). Hinzu kommt der Wunsch, durch geeignete Maßnahmen den Status quo der körperlichen Leistungsfähigkeit nach Möglichkeit zu erhalten oder sogar zu verbessern. (Siehe Beitrag Dauer und Phasen der Rehabilitation bei Querschnittlähmung).

Im sozialrechtlichen Kontext hat der Begriff „Rehabilitation“ jedoch noch weitaus mehr Aspekte. Es geht um die (Wieder-)Eingliederung von Men­schen mit Behinderung in das berufliche und gesellschaftliche Leben. Leistungen können hier laut BAG-Broschüre unter anderem die Ausstattung mit Hilfsmitteln, die be­hindertengerechte Zusatzausstattung des eigenen Pkw, berufliche Wiedereingliede­rungsmaßnahmen, die Kostenübernahme für eine notwendige Arbeitsassistenz, aber gegebenenfalls auch Wohnungshilfen für den behindertengerechten Umbau der eigenen Wohnung oder ein Gründerzu­schuss für Selbstständige sein.

Leistungen zur Teilhabe

Teil 5 ist den „Leistungen zur Teilhabe“ gewidmet – ein sehr weites Feld. Prinzipiell gibt es 5 relevante Bereiche, die § 5 SGB IX (und die BAG-Broschüre) auflistet:

  • Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
  • Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
  • Unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen
  • Leistungen zur Teilhabe an Bildung
  • Leistungen zur Sozialen Teilhabe

Auch hier wird die Broschüre ihrer Zielsetzung gerecht und schildert detailliert und gut verständlich, was unter welchen Bedingungen möglich ist, zum Beispiel

  • Leistungen für Wohnraum
  • Assistenzleistungen
  • Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten
  • Leistungen zur Mobilität (z.B. Kraftfahrzeughilfe)
  • Hilfsmittel zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

Beratung und Information

In Teil 6 werden wichtige Akteure aus dem Bereich „Beratung“ noch einmal vorgestellt (siehe oben, „Anspruch auf unabhängige Beratung“): Rehabilitationsträger, die Ansprechstellen und die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB). (Siehe auch Beitrag Unabhängig von Leistungsträgern: Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung)

Durchsetzung von Rechten

Teil 7 – „Wie kann ich meine Rechte durchsetzen?“ – dürfte für all diejenigen besonders interessant sein, mit ihrer derzeitigen Versorgung nicht zufrieden sind. Auch wenn die neuen Regelungen nach Meinung der BAG SELBSTHILFE vielleicht noch nicht flächendeckend bekannt sind – sie gelten und damit bestehen auch die entsprechenden Ansprüche der Leistungsberechtigten. Die­se sollten also durchaus den Mut haben, ihre Rechte und berechtigten Wünsche und Vorstellungen auch einzufordern“, betont die Broschüre. Und ermutigt Betroffene, „etwaige geänderte Wünsche oder nicht zufriedenstellend verlaufende Reha-Verläufe auch zu be­nennen und im Zweifel eine Anpassung einzufordern“.

Passend dazu werden mögliche rechtliche Mittel genannt – aber auch darauf hingewiesen, dass vor einem Antrag ein wichtiger Schritt stehen sollte: Die Information und die Selbsterforschung: „Sinnvoll ist es, wie bereits oben betont, sich im Vorfeld umfassend zu informieren und dabei etwa auch verschiedene Be­ratungsstellen aufzusuchen, damit keine wesentlichen Informationen vergessen werden und der Bedarf aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Wichtig ist es dabei, sich in Ruhe Gedanken darüber zu machen, was man selbst für richtig hält und welche Richtung man einschlagen will. Das gilt etwa für die Frage, ob man Sach- und Dienstleistungen in Anspruch nehmen will oder – soweit möglich – alternativ das Persönliche Budget, um dann die Leistun­gen selbst einzukaufen. Das gilt vor allem für Entscheidungen im Zusammenhang mit beruflichen Perspektiven.“

Mein Recht auf Rehabilitation und Teilhabe. Was hat sich seit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes geändert?

Herausgeber: BAG SELBSTHILFE (Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.)
Autor: Holger Borner, Rechtsanwalt
1. Auflage, Dezember 2023 (Rechtstand: Dezember 2023)

Die Broschüre kann kostenfrei als Printversion über info(a)bag-selbsthilfe.de bestellt werden oder steht auf den Seiten der BAG zum Download bereit: Mein Recht auf Rehabilitation und Teilhabe. Was hat sich seit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes geändert? (bag-selbsthilfe.de)